Zwei Milliarden Pfund für einen Chaos-Brexit

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Das britische Kabinett hat am Dienstag die Vorbereitungen für einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU verstärkt. Denn noch immer ist sich London über die Modalitäten des Brexit uneins.

Mein Deal oder kein Deal, so lautet das Motto der britischen Premierministerin Theresa May. Nach mehreren politischen Rückschlägen kämpft sie weiterhin um Unterstützung für den Brexit-Deal mit der EU. Doch zugleich signalisiert ihr Kabinett: Notfalls lasse man es auf einen ungeregelten Austritt ankommen.

Denn heute hat das britische Kabinett die Vorbereitungen auf einen "No Deal" verstärkt. Laut BBC wurden zwei Milliarden Pfund dafür bereitgestellt. Außerdem wurden 140.000 Briefe an Unternehmer versandt. Am Mittwoch will dann die EU-Kommission konkrete Maßnahmen für den Fall eines No-Deal vorlegen. Vorgesehen ist ein Informationsdokument über Dringlichkeitsmaßnahmen, die bei einem "No Deal"-Szenario greifen sollen.

London hält 3.500 Soldaten bereit

Die britische Armee bereitet sich mit tausenden Soldaten auf den Fall eines chaotischen Austritts aus der EU vor. Rund 3.500 Soldaten würden bereitgehalten, um nach einem harten Brexit im März 2019 auf "alle Eventualitäten" vorbereitet zu sein, sagte Verteidigungsminister Gavin Williamson am Dienstag im Londoner Unterhaus. Ihre Aufgabe sei es, "im Notfall die Regierungsinstitutionen zu unterstützen". Das Bereitschafts-Kontingent setze sich aus regulären Soldaten und Reservisten zusammen.

Der Minister führte nicht aus, welche Not- oder sonstige Fälle er bei einem harten Brexit befürchtet. Die "Sunday Times" hatte kürzlich aus einem internen Behördenpapier zitiert, wonach sich die britische Polizei für den Fall eines harten Brexit auf "Unruhen bis hin zu weitreichendem Aufruhr" vorbereite.

Knapp 100 Tage vor dem EU-Austritt des Landes am 29. März ist noch immer nicht in Sicht, wie Premierministerin Theresa May das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen durchs Parlament bringen will. Bei einem Auftritt am Montag im Unterhaus kündigte sie an, dass die verschobene Abstimmung über ihren Brexit-Deal in der dritten Jännerwoche (ab 14.01.) stattfinden soll. Das stieß auf heftige Kritik bei den Abgeordneten. Oppositionsführer Jeremy Corbyn kündigte eine - von der Wirkung her symbolische - Vertrauensabstimmung im Parlament gegen May an.

"Das ist kein guter Deal"

Für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals ist die Ungewissheit ein Albtraum. Seit zweieinhalb Jahren herrscht Ungewissheit darüber, wo es hingeht. Trotz höflich-positiver Reaktionen auf Mays Austrittsvertrag lässt auch der bisher vereinbarte Deal Unternehmen nicht wirklich aufatmen - die Unsicherheit würde nur verlängert.

Eine versehentlich an die Presse gelangte E-Mail des größten britischen Unternehmerverbands CBI offenbarte kürzlich das Unbehagen. "Das ist kein guter Deal", schrieb Brexit-Expertin Nicole Sykes an einen Kollegen. Der Schwebezustand macht größere Investitionen unmöglich. Die noch immer nicht gebannte Gefahr eines Brexit ohne Abkommen zwingt viele in der Produktion und im Handel dazu, Vorräte anzulegen und Notfallpläne zu erstellen. Das kostet Geld und bindet Kapazitäten.

Die Furcht vor einem Chaos im südenglischen Dover, wenn Zollanmeldungen und -kontrollen nötig wären, ist groß. Empfindliche Waren wie Lebensmittel und Medikamente könnten unterwegs unbrauchbar werden, fürchten Experten. Deswegen platzen die Lagerhallen - besonders für gekühlte und gefrorene Lebensmittel - in Großbritannien inzwischen aus allen Nähten. Auch die Trinkwasserversorgung in Großbritannien könnte zusammenbrechen.

Britische Wirtschaft nimmt schon jetzt Schaden

Die Regierung gibt inzwischen zu, dass der Brexit - egal, wie er am Ende konkret aussieht - der Wirtschaft schaden wird. Kaum noch ist die Rede von der angeblichen "Brexit-Dividende" - den 350 Millionen Pfund (rund 389 Mio. Euro) pro Woche, die Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson auf die Seite eines roten Busses hatte drucken lassen und die dann dem nationalen Gesundheitsdienst NHS zugutekommen sollten.

Stattdessen kostet der Brexit den britischen Fiskus schon heute bares Geld. Laut jüngsten Schätzungen hat die Unsicherheit während der zähen Verhandlungen die Wirtschaftskraft des Landes seit dem Referendum 2016 um zwei Prozent kleiner ausfallen lassen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Eine Denkfabrik bezifferte den Schaden für den Schatzkanzler im Sommer auf 500 Millionen Pfund pro Woche.

Das angesehene National Institute of Economic and Social Research (NIESR) geht davon aus, dass Großbritanniens wirtschaftliche Leistung im Jahr 2030 um vier Prozent kleiner ausfallen wird als ohne Austritt. Doch das sei noch eine sehr vorsichtige Schätzung, hieß es.

Wenn man nur die Wirtschaft betrachte, zeige die Analyse deutlich, dass in der EU zu bleiben ein besseres Ergebnis für Großbritannien bringen würde, sagte vor einigen Wochen der britische Schatzkanzler Philip Hammond. Zur Umkehr führt diese Einsicht bisher nicht.

(APA/dpa)

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