Auf europäischer Ebene sind die Tage des informellen Bündnisses EVP/S&D gezählt. Die christ- und sozialdemokratischen Parteienfamilien dürften ihre Mehrheit im EU-Parlament verlieren – und müssen neue Partner suchen.
Wien. „Ein größeres Personaltableau“ – es war ein sperriger, verklausulierter Begriff, den Angela Merkel nach dem informellen EU-Gipfel am 27. Mai 2014 in den Mund genommen hatte, um die Gefechtslage nach der soeben geschlagenen Europawahl zu beschreiben. Die deutsche Bundeskanzlerin und ihre europäischen Kollegen steckten an diesem Abend in einer Zwickmühle. Die Besetzung des Spitzenpostens in der Europäischen Kommission war bis dato die Sache der Staats- und Regierungschefs gewesen. Doch bei der Europawahl 2014 hatten die Spitzenkandidaten der größten europäischen Parteienfamilien den Wählern versprochen, der Wahlsieger würde automatisch den Zuschlag erhalten und José Manuel Barroso als Kommissionspräsident nachfolgen. Hinzu kam die Person des Wahlsiegers selbst: Das Rennen hatte nämlich Jean-Claude Juncker gemacht, der als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) mit Merkels Segen in die Wahlschlacht gezogen und als europapolitisches Urgestein über jeden inhaltlichen Zweifel erhaben war.
Dass Merkel im Anschluss an die Wahl dennoch zögerte, hatte damit zu tun, dass Juncker und sein Rivale, Martin Schulz, der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten (S&D), die Staats- und Regierungschefs überrumpelt hatten. Gemäß EU-Verträgen wird der Kommissionspräsident von den Mitgliedstaaten der Union unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahl nominiert. Schulz und Juncker machten aus diesem Prinzip einen Quasi-Automatismus, um die Europawahl demokratiepolitisch aufzuwerten und den Einfluss der Nationalregierungen auf die europäischen Institutionen zurückzudrängen.