Die Wahl des Italieners Sassoli zum Parlamentspräsidenten ist Teil eines Deals der drei Großparteien. Doch dieser bröckelt, denn in den Gruppen steigt der Unmut.
Brüssel. Ein italienischer Exjournalist folgt einem italienischen Exjournalisten als Präsident des Europaparlaments: Mit der Wahl des 63-jährigen Sozialdemokraten David-Maria Sassoli hat das Europaparlament am Mittwoch seinen Teil zu jenem Deal beigetragen, den Europas drei große Parteifamilien für die Chefposten in den EU-Institutionen abgeschlossen haben. Keine zwölf Stunden nach der Brüsseler Einigung der Staats- und Regierungschefs darauf, dass sich die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten den Vorsitz des Parlaments zu je zweieinhalb Jahren teilen, erfüllte die Kammer in Straßburg diesen Wunsch der Regierungen – wenn auch erst im zweiten Anlauf und mit sehr knapper Mehrheit.
Nur 345 Abgeordnete stimmten für Sassoli, der in seiner zehnjährigen Karriere im Europaparlament nicht durch großen Tatendrang aufgefallen war. Angesichts von 667 gültigen Stimmen lag die nötige Mehrheit bei 334.
Die neue große Koalition bröckelt schon
Anders ausgedrückt: Nicht einmal die Hälfte aller derzeit 748 Europaabgeordneten (drei separatistische Katalanen konnten ihre Mandate nicht antreten) unterstützen ihren neuen Präsidenten, der seinem christdemokratischen Landsmann Antonio Tajani folgt und die Kammer bis Jänner 2022 führen wird. Danach wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der CSU-Mann Manfred Weber übernehmen. Der im Rennen um den Chefsessel der Europäischen Kommission gescheiterte Spitzenkandidat der EVP bekommt somit zweieinhalb Jahre Parlamentsvorsitz als Trostpreis.
Das erklärt, wieso eine Mehrheit der 182 EVP-Abgeordneten für den linken Sassoli gestimmt haben. Und es erklärt auch, wieso ebenfalls viele der 108 Liberalen im Straßburger Plenum Ja zu ihm gesagt haben. Denn im Rahmen ihres Kuhhandels wählten die Staats- und Regierungschefs am Dienstag den liberalen belgischen Ministerpräsidenten, Charles Michel, zum Präsidenten des Europäischen Rats. Sassoli ist Teil der Gleichung, mit der die höchsten EU-Ämter aufgeteilt wurden: Die deutsche Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, wurde als Kommissionsvorsitzende vorgeschlagen und der spanische Sozialist Josep Borrell als Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik nominiert.
Doch der neue europapolitische Dreierbund ist fadenscheinig. Denn in allen drei Parteifamilien gibt es tiefen Groll gegen die Art, wie wichtige Ämter bei dem dreitägigen Brüsseler Gipfel verschachert wurden. Und so erklärt sich die schwache Mehrheit für Sassoli: 444 Abgeordnete haben EVP, Sozialdemokraten und Liberale gemeinsam. Folglich haben bei der geheimen Abstimmung fast 100 von ihnen sich enthalten oder gegen ihn gestimmt.
Grüne fordern erstmals EU-Kommissare
Der Wahlblock faserte an allen Enden aus. Vor allem die SPD-Abgeordneten dürften ihren unverhohlenen Unmut angesichts der überraschenden Nominierung Sassolis, der erst am Dienstagabend von der spanischen Fraktionsführerin Iratxe García klubintern präsentiert wurde, Luft gemacht haben. Im rechten Spektrum wiederum dürften EVP-Abgeordnete aus Mittel- und Osteuropa dagegen protestiert haben, dass niemand aus ihrer Region eines der wichtigsten EU-Spitzenämter bekleiden wird.
All das sind keine erfreulichen Nachrichten für von der Leyen. Zwar dürfte die CDU-Politikerin wohl in zwei Wochen die nötige Mehrheit von 375 Stimmen erhalten; bereits am Mittwochnachmittag traf sie in Straßburg die EVP-Fraktion, um für sich zu werben. Aber eine überwältigende proeuropäische Mehrheit, mit der die neue Kommission ihre Geschäfte aufnehmen sollte, wird ihr verwehrt bleiben. Die 74 Grünen, mit denen die drei großen Fraktionen über ein inhaltliches Abkommen verhandeln, möchten die Deutsche derzeit nicht unterstützen. „Wenn man eine klare, starke Mehrheit will, braucht es ein gemeinsames Programm“, sagte der belgische Grüne Philippe Lamberts zur „Presse“. „Und dann fordern wir auch grüne Kommissare, einer davon ein Vizepräsident für Klima und Energie.“ In Finnland, Schweden und Luxemburg seien die Grünen in der Regierung; von dort könnten Kandidaten kommen. Hat er Bereitschaft seitens der anderen drei Parteien dazu verspürt? „Derzeit nicht.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2019)