Zittersieg für von der Leyen

Ursula von der Leyen - die neue EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen - die neue EU-KommissionspräsidentinAPA/AFP/FREDERICK FLORIN
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Ursula von der Leyen wird die erste Präsidentin der mächtigsten EU-Institution. Doch sie erhielt im Europaparlament nur die knappste Mehrheit seit einem Vierteljahrhundert.

383 Stimmen für sie, 327 gegen sie, 22 Enthaltungen: mit nur neun Stimmen über der absoluten Mehrheit wurde Ursula von der Leyen am Dienstagabend vom Europaparlament in Straßburg zur ersten Frau an der Spitze der Europäischen Kommission gewählt. „Ich fühle mich geehrt und überwältigt“, sagte die sichtlich erleichterte 60-jährige vormalige deutsche Bundesministerin für Familien, Arbeit und Verteidigung nach Verkündigung des Ergebnisses. „Unser gemeinsames Ziel ist ein geeintes, ein starkes Europa.“

Dem mag so sein, doch geeint war weder das Parlament als ganzes, noch die einzelnen Fraktionen. Sämtliche 16 Abgeordnete der SPD stimmten gegen sie, darunter auch Katharina Barley, die als Bundesjustizministerin noch bis vor Kurzem mit von der Leyen gemeinsam auf der Regierungsbank in Berlin gesessen hatte. Auch die französischen, belgischen und niederländischen Sozialdemokraten verweigerten ihr das Ja, obwohl ebenso ihr Parteigenosse Frans Timmermans, der von der Leyens erster Vizepräsident wird, wie auch die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Spaniens und Portugals starken Druck auf sie machten.

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Und auch in ihrer eigenen Fraktion, der 182 Köpfe zählenden Europäischen Volkspartei, gab es Deserteure, allen voran dem Vernehmen nach die Ungarn von der Fidesz: das stellt die Führungsstärke von Fraktionschef Manfred Weber, der selber gerne an von der Leyens Stelle gewesen wäre, am Dienstag aber in der Generaldebatte mit ihr geschworen hatte, die gesamte Fraktion werde sie wählen, in Frage.

Luftige Versprechen, harte Realitäten

Mit der Nominierung der 1958 im Brüsseler Stadtteil Ixelles als Tochter von Ernst Albrecht, des Generaldirektors der Kommission für Wettbewerb und späteren Ministerpräsidenten von Niedersachsen, geborenen von der Leyen hat sich jedenfalls ein europapolitischer Trend veranschaulicht: Im Spätherbst ihrer eigenen Laufbahn hat Angela Merkel ihre Façon des Regierens fest in Europa zementiert. Deren Leitmotiv lautet Eintracht. Konflikt, Dissonanz, Opposition sind Störungen des Führens mit der ruhigen Hand, auf die man zweierlei Antworten hat: Entweder man ignoriert die lästigen Zwischenrufer, oder man macht sich, wenn der Druck der Öffentlichkeit zu stark geworden ist, ihre Parolen zu eigen.

Am deutlichsten lässt sich das an der Klimapolitik erkennen, sowohl bei Merkel als auch bei von der Leyen: So verkündete von der Leyen, die noch vorige Woche bei den Aussprachen mit den Fraktionen in dieser Frage recht vage war: „Ich werde in meinen ersten 100 Tagen das erste Europäische Klimagesetz vorlegen, welches das 2050-Ziel verbindlich macht.“

Doch die großen Ankündigungen von der Leyens haben einen Makel: Sie sind nichts wert, wenn die nationalen Regierungen nicht wollen. Doch genau an ihnen scheitern die großen Reformen, die sie im Straßburger Plenum versprochen hat. Die erwähnte Dekarbonisierung der EU bis 2050 ist ein gutes Beispiel dafür: Polen, Tschechien und Ungarn lehnten das erst vor wenigen Wochen beim Europäischen Rat in Brüssel ab. Gleich gelagert ist das Problem bei ihren Vorhaben zur Erhöhung der Steuergerechtigkeit, vor allem für Digitalkonzerne: hier müssen alle Finanzminister zustimmen.

Kosmetik statt Grundsatzfragen

Bei der Klimapolitik wird auch einer der Hauptkritikpunkte an der Merkel-Doktrin der Konfliktvermeidung offenkundig: Statt ein Problem von Grund auf anzupacken, wird es behübscht. Einen „Fonds für gerechten Wandel“ will von der Leyen schaffen, um jene Arbeiter, die im Zuge der Dekarbonisierung ihre Jobs verlieren, zu unterstützen. Kennt sie den 2006 geschaffenen EU-Fonds für die Anpassung an die Globalisierung nicht – und dessen bescheidene Ergebnisse?

Kosmetik statt Grundsatzfragen – dieses Problem des Merkelismus zeigt sich auch an von der Leyens Vorschlägen zum heißesten Konfliktthema der Union. „Ich werde einen neuen Pakt für Migration und Asyl vorschlagen, einschließlich der Neuaufnahme der Dublin-Reform. Ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem muss genau das sein – gemeinsam. Wir brauchen Solidarität. Wir brauchen neue Lastenteilung.“ Aber wie? An diesen politischen Unvereinbarkeiten beißt sich die EU seit Jahren die Zähne aus. Und das weiß die vormalige Bundesministerin von der Leyen nur zu gut.

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