Britisches Parlament bremst Johnson ein: Neuwahlen wahrscheinlich

Boris Johnson verlor die Mehrheit im Unterhaus. Sein möglicher Ausweg sind Neuwahlen noch im Oktober, aber auch denen muss das Parlament zustimmen.
Boris Johnson verlor die Mehrheit im Unterhaus. Sein möglicher Ausweg sind Neuwahlen noch im Oktober, aber auch denen muss das Parlament zustimmen.APA/AFP/-
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Gegner eines No-Deal-Brexit ließen sich von Drohungen der Regierung nicht einschüchtern. Am Mittwoch steht ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit auf dem Programm - gegen den Willen von Premier Boris Johnson.

London. Ein stilles Gefühl wachsender Zuversicht erfüllte die Gegner des Brexit-Kurses des britischen Premierministers, Boris Johnson, zum Auftakt der ersten Parlamentssitzung nach der Sommerpause. „Wir haben die Stimmen beisammen“, sagte der frühere Schatzkanzler Philipp Hammond noch vor Zusammentreten des Unterhauses am Dienstag in London. Und das Hochgefühl hielt an. Es setzte eine gehörige Schlappe für den Premierminister. Die Opposition wollte gemeinsam mit Rebellen von Johnsons Konservativen einen Antrag auf die Tagesordnung setzen, der ein Ausscheiden Großbritanniens zum aktuellen Stichtag am 31. Oktober um drei Monate verschiebt. Der Plan ging auf: Parlamentssprecher John Bercow hat die Dringlichkeitsdebatte zugelassen. Die Abstimmung gegen 23 Uhr österreichischer Zeit ging klar aus: Die Gegner eines ungeregelten EU-Austritts können am Mittwoch einen Gesetzentwurf gegen den No-Deal einbringen und darüber abstimmen lassen.

Premierminister Johnson reagierte gewohnt energisch und wie vorhergesagt: Er drohte offen mit Neuwahlen, sollte das Unterhaus am Mittwoch jenem Entwurf zustimmen, der einen weiteren Brexit-Aufschub vorsieht, sollte es keinen Deal mit der EU geben.

Mehrheit verloren

Am frühen Abend hatte es einen weiteren Rückschlag für Johnson gegeben: Er verlor nach dem Übertritt des bisherigen Tory-Abgeordneten Philipp Lee zu den EU-freundlichen Liberalen seine auf einen Sitz zusammengeschrumpfte Mehrheit im Unterhaus. Lee zählt zu den Gegnern eines harten Brexit. Aber es war nicht nur Lee, der in der Nacht aus der Reihen der Tories dafür gesorgt hat, dass am Mittwoch abgestimmt werden soll. Mehrere Konservative aus der Remain-Fraktion haben gegen ihren Parteichef gestimmt.

Johnson hatte am Vorabend erneut betont, dass er „unter keinen Umständen“ eine weitere Verzögerung des EU-Austritts in Brüssel beantragen werde. Er vertritt den Kurs eines „Brexit ohne Wenn und Aber“. Seinen Gegner warf er vor, der britischen Verhandlungsposition „die Beine abzuhacken“. Nur wenn Brüssel überzeugt davon sei, dass London vor einem harten Brexit nicht zurückscheue, werde die EU zu Zugeständnissen bereit sein. EU-Diplomaten reagierten gestern mit „Verblüffung“ auf diese Aussagen. „Wo haben diese Leute die vergangenen zwei Jahre verbracht?“

Obwohl Johnson in einer Erklärung an das Volk vor seinem Amtssitz Montagabend betonte: „Ich will keine Neuwahlen, und ihr wollt auch keine Neuwahlen“, ist mittlerweile klar, dass er genau diese Option anstrebt, sollte ihm das Parlament beim Brexit Einhalt gebieten. Aus seiner Umgebung wurde bereits der 14. Oktober als Termin lanciert. Johnson setzt dabei darauf, als Einlöser des Brexit die Labour Party vernichtend besiegen zu können.

„Eine riesige Falle“

Die erforderliche Zustimmung der Opposition zu Wahlen schien zunächst sicher. „Wir sind bereit“, erwiderte Labour-Chef Jeremy Corbyn, der zwei Jahre Neuwahlen gefordert hatte. Im Verlauf des Tages setzten sich aber jene durch, die in Johnsons Ankündigung eine „riesige Falle“ sehen. Nach einem Treffen der Opposition erklärte die Fraktionschefin der walisischen Nationalisten, Liz Saville Roberts: „Wir haben sehr wohl verstanden, dass es dem Premierminister nur darum geht, seinen No Deal durchzupeitschen und an der Macht zu bleiben.“

Ebenfalls nicht zu verfangen schienen die Drohungen von Johnsons Führung gegen Abweichler aus den eigenen Reihen, denen der Fraktionsausschluss und ein Kandidaturverbot bei der nächsten Wahl angedroht wurden. „Das ist meine Partei“, sagte Hammond. „Ich gehöre seit 45 Jahren den Konservativen an, und ich werde meine Partei verteidigen.“ Ex-Staatssekretär Sam Gyimah: „Meine Partei hat mich verlassen, nicht ich die Partei.“ Ex-Justizministerin Justin Greening erklärte, nicht mehr für ihre Partei zu kandidieren. Zahlreiche weitere Minister der Regierung May galten als Abtrünnige.

Auch ein letztes Gespräch von möglichen Rebellen mit dem Premier brachte keinen Umschwung. Johnson habe „keine überzeugenden Antworten“ und „keinen klaren Plan für Fortschritte in Gesprächen mit der EU“ zu erkennen gegeben, hieß es.

Die bedrohlichste innenpolitische Krise Großbritanniens erreicht ihren (bisherigen) Höhepunkt. Doch sie kann den obskuren Ablauf staatlicher Prozeduren nicht ändern. Erster Tagesordnungspunkt waren gestern „außenpolitische Fragen“, die an diesem Tag absolut niemanden interessierten. Erst gegen Abend wurde die Dringlichkeitsdebatte erwartet, die Abstimmung sollte erst nach 21 Uhr Ortszeit erfolgen. Die eigentlich entscheidende Frage einer neuerlichen Verschiebung des Brexit sollte dann erst heute, Mittwoch, nach 15 Uhr zur Debatte stehen. Stimmt das Unterhaus auch hier gegen die Regierung, wird mit einem umgehenden Neuwahlantrag von Johnson gerechnet.

ZEITPLAN

Dienstag beriet das Unterhaus über die Tagesordnung zur Einbringung eines Gesetzes, mit dem der No-Deal-Brexit verhindert werden soll.

Mittwoch soll das Unterhaus über eine Brexit-Verschiebung entscheiden.

Noch diese Woche könnte Premierminister Johnson einen Neuwahlantrag einbringen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2019)

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