Deutscher Krankenpfleger soll mehr als 84 Menschen getötet haben

APA/AFP/DPA/CARMEN JASPERSEN
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Bisher war bekannt, dass Niels H. in zwei deutschen Kliniken 36 Morde begangen haben soll. Bei Exhumierungen von ehemaligen Patienten wurde klar: Das ist nur die Spitze des Eisberges.

Der ehemalige deutsche Krankenpfleger Niels H. hat nach neuen Erkenntnissen insgesamt mindestens 90 Morde an schwer kranken Klinikpatienten begangen. Das gaben die Ermittler der Sonderkommission Kardio aus Staatsanwaltschaft und Polizei am Montag in Oldenburg zum Abschluss ihrer Arbeit bekannt. Die Ermittlungen seien aber noch nicht völlig beendet.

So stünden die Ergebnisse der toxikologischen Analysen von 41 exhumierten Patienten noch aus. Nach Angaben der Ermittler handelt es sich um einen in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte einmaligen Fall. Die Dimension der Verbrechen von H. mache "fassungslos", sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme. Er betonte zugleich, dass die Gesamtzahl der von diesem verübten Taten womöglich noch viel höher sein könnte, aber nicht mehr sicher nachweisbar sei.

Größte Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte

Der verurteilte Patientenmörder Niels H. könnte nach Angaben der Ermittler für die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich sein. Wegen sechs Taten sitzt der Ex-Pfleger bereits lebenslang in Haft. Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres will die Staatsanwaltschaft erneut Anklage erheben.

Der 40-Jährige beging seine Taten in Krankenhäusern in Delmenhorst und Oldenburg, wo er unter anderem auf einer Intensivstation tätig war. Er verabreichte Patienten verschiedene Medikamente, um sie in Lebensgefahr zu bringen und sie anschließend wiederbeleben zu können. Viele Menschen überlebten diese Prozedur jedoch nicht. Damit wollte er sich vor Kollegen als heldenhafter Retter beweisen.

Mehr als 130 frühere Patienten der beiden Kliniken ließ die eigens dafür eingerichtete Sonderkommission der Polizei in den vergangenen drei Jahren ausgraben und auf Rückstände von Medikamenten testen. "Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen konnten, erschrecken noch immer - ja, sie sprengen jegliche Vorstellungskraft", sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme.

"Die Spitze des Eisbergs"

Bei 48 Patienten in Delmenhorst und 36 in Oldenburg wurden die Ermittler fündig. Die tatsächliche Zahl der Verbrechen von Niels H. liege aber um ein Vielfaches höher, sagte Soko-Leiter Arne Schmidt. "Die Morde, die wir belegen können, sind nur die Spitze des Eisberges." Allein am Klinikum Delmenhorst seien mehr als 130 Patienten, die während einer Schicht von Niels H. starben, eingeäschert worden. Ein Nachweis sei bei ihnen nicht mehr möglich. Die Polizei löst die Sonderkommission jetzt auf, die Ermittlungen laufen aber noch weiter.

Aufgrund der inzwischen vorliegenden Informationen gehen die Ermittler auch davon aus, dass H. den ersten nachweisbaren Mord bereits im Jahr 2000 und nicht erst 2003 beging. Die Serie endete 2005 mit seiner zwischenzeitlichen Festnahme.

In Verhören im Gefängnis hat Niels H. die Taten in Delmenhorst und Oldenburg eingeräumt. Offen bleibe, ob er im vollen Umfang geständig sei und ob er sich überhaupt an alle Taten erinnern könne, sagte Schmidt. So bestreite Niels H., dass er auch Patienten an anderen Arbeitsstätten - als Rettungssanitäter und als Pfleger in Altenheimen - eine Überdosis Medikamente gespritzt habe. Diesen Verdacht würden aber Zeugenaussagen nahelegen. Die Patienten starben in diesen Fällen aber nicht.

Statistiken als Warnsignal

Fest steht nach Ansicht der Ermittler, dass ein großer Teil der Morde hätte verhindert werden können. Schon am Klinikum Oldenburg gab es eine Statistik, die zeigte, dass während der Schicht von Niels H. die Sterberate und die Zahl der Reanimationen stieg. Diese Statistik sei auch der damaligen Geschäftsführung bekannt gewesen, sagte Schmidt. Wären die Verantwortlichen damals schon zur Polizei gegangen, wäre es zu den Morden an der späteren Arbeitsstelle in Delmenhorst nicht gekommen, betonte Schmidt.

Stattdessen trennte sich das Klinikum Oldenburg von dem verdächtigen Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeugnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhorst blieb aus. Auch am Klinikum Delmenhorst gab es bald Gerüchte, weil auffällig viele Patienten während der Schicht von Niels H. starben. Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Die Ermittlungen gegen Verantwortliche am Klinikum Oldenburg laufen noch.

Chronologie einer Mordserie

1999-2002: Niels H. arbeitet im Klinikum Oldenburg.

2003-2005: Der Pfleger arbeitet auf der Intensivstation im Klinikum Delmenhorst.

Juni 2005: Eine Krankenschwester ertappt den Mann im Klinikum Delmenhorst auf frischer Tat, als er einem Patienten ein Mittel verabreichen will, das dieser gar nicht bekommen soll.

2006: Das Landgericht Oldenburg verurteilt Niels H. wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft. Der Bundesgerichtshof kippt das Urteil.

Juni 2008: Im Revisionsprozess verurteilt das Landgericht Oldenburg den Mann zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen Mordversuchs.

Jänner 2014: Die Staatsanwaltschaft erhebt erneut Anklage gegen den Mann, der Prozess beginnt im September.

November 2014: Eine Sonderkommission der Polizei ermittelt. Sie geht inzwischen mehr als 200 Verdachtsfällen nach.

Jänner 2015: Niels H. gesteht vor Gericht etwa 90 Taten. Bis zu 30 Patienten sollen gestorben sein.

Februar 2015: Das Landgericht Oldenburg verurteilt Niels H. wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuchs und gefährlicher Körperverletzung an Patienten in Delmenhorst zu lebenslanger Haft.

Juni 2016: Die Ermittler geben bekannt, dass Niels H. für mindestes 33 Todesfälle am Klinikum Delmenhorst verantwortlich ist. Niels H. habe gestanden, auch am Klinikum Oldenburg Patienten getötet zu haben.

August 2017: Niels H. hat nach neuen Angaben der Ermittler 84 weitere Menschen auf dem Gewissen, neben den sechs Fällen, für die er bereits verurteilt wurde. Die Zahl der Todesfälle liege vermutlich sogar weit höher; viele Patienten seien jedoch eingeäschert worden und können nicht mehr untersucht werden. Die Sonderkommission soll Ende des Monats aufgelöst werden.

(APA/AFP/red.)

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