Japan: Hundertjährige dringend gesucht

Japan Hundertjaehrige dringend gesucht
Japan Hundertjaehrige dringend gesucht(c) AP (Koji Sasahara)
  • Drucken

Die japanischen Behörden „vermissen“ mindestens 279 Pensionisten, die älter als 110 Jahre sind. Dahinter dürfte ein gigantischer Rentenbetrug im Land der Greise stecken.

Tokio. Sag mir, wo die Alten sind – wo sind sie geblieben? Schon mindestens 279 Japaner, die 100 Jahre oder mehr auf dem Buckel haben sollten, sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Das Drama begann vergangene Woche, als eine total verweste Leiche im Tokioter Stadtbezirk Adachi gefunden wurde. Den Ausweispapieren nach handelte es sich um den Pensionisten Sogen Kato, der sich nach Familienangaben vor 32 Jahren in sein Zimmer eingeschlossen hatte und seither nie wieder aufgetaucht ist. Der alte Herr habe damals beschlossen, durch Fasten zum lebendigen Buddha zu konvertieren.

Wäre er aber tatsächlich noch am Leben, müsste Kato nun 111 Jahre zählen, und genau mit diesem Alter ist er bei der Stadtverwaltung und dem zuständigen Rentenamt als ältester Mann Tokios gemeldet. Vermutlich ist der Pensionär aber in Wirklichkeit an jenem Tag gestorben, was die trauernden Angehörigen nur vergessen haben zu melden. Seine Pension wurde pünktlich weiter überwiesen, weswegen nun die Staatsanwaltschaft ermittelt.

„Mit 113 plötzlich umgezogen“

Der Pensionsbetrug wäre sicher noch Jahre weitergelaufen, weil in Japan die Privatsphäre so hoch geschätzt wird, dass auch Polizei und Bürokratie keine Fragen stellen. Bei Herrn Kato wollte die Stadtverwaltung eigentlich auch nur vorbeischauen, um ihn für eine Ehrungder Uraltveteranen einzuladen. Die Enkel versuchten die Beamten mit einer abenteuerlichen Reisegeschichte abzuspeisen, öffneten dann aber reumütig die Tür.

Etwas irritiert fragten die Behörden nun auch bei der Familie von Fusa Furuya nach, mit 113 die älteste Frau Tokios. Obwohl offiziell bettlägerig und seit Jahren auch für die offiziellen Geburtstagsgratulanten nicht ansprechbar, war auch Frau Furuya gerade nicht zu Hause. Ihre 79-jährige Tochter erklärte, die Veteranin habe plötzlich ihre seit 1986 registrierte Meldeadresse im Viertel Suginami gewechselt und lebe nun vermutlich wohlbehalten bei ihrem Bruder außerhalb von Tokio.

Als die Polizei – nun misstrauisch geworden – das mal eben überprüfen wollte, stellte sich heraus, dass die angegebene Stelle ein Grundstück mit einem seit langem verlassenen Haus ist. Seither läuft die Fahndung. Die jüngste Tochter Furuyas gab inzwischen zu, ihre Mutter „seit mehr als 20 Jahren nicht gesehen“ zu haben und auch nicht zu wissen, wo sie sich aufhält. Sie wolle „in die ganze Angelegenheit“ auch nicht hineingezogen werden. Rente bezieht die alte Dame nun bis auf Weiteres nicht mehr.

Stattdessen fahndet das zuständige Ministerium nun gezielt nach dem Verbleib seiner Rentner. Immerhin sind in Japan 40.400 Menschen als 100 Jahre oder älter registriert. Nach Angaben von Minister Akira Nagatsuma konzentriert man sich wegen dieser hohen Zahl zunächst erst einmal auf die mehr als 110-Jährigen. Jeden Tag wird die Liste der „Unauffindbaren“ länger, am Freitag waren es nach Angaben der Zeitung „Asahi Shimbun“ mindestens 279 Vermisste.

Geprüft muss auch noch werden, ob die Behörden und Pensionskassen ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigt haben. „Die Regierung zahlt grundlegend so lange, wie es keine Todesmeldung gibt“, rechtfertigt sich das Ministerium. „Wir vertrauen dem Gemeinschaftssinn.“ Kontrolle wäre besser gewesen, bis 2006 mussten die Veteranen regelmäßig ihren Rechtsanspruch gegenüber den lokalen Behörden beweisen.

Aber Sparmaßnahmen beim Staat und die Weigerung von Super-Alten, Beamte in ihre Wohnungen zu lassen, „haben diese Sitte aussterben lassen“, gibt ein Verantwortlicher des Tokioter Bezirks Kita zu. Nun hat er den Ärger: 93 Hundertjährige in seinem Viertel hat er gefunden, 105 dagegen noch nicht. Es darf also damit gerechnet werden, dass sich der Rentenbetrug zu einem öffentlichen Skandal ausweitet.

AUF EINEN BLICK

In Japan sind 40.400 Menschen als 100 Jahre oder älter registriert, davon 4800 in Tokio. Behörden haben nun festgestellt, dass mindestens 279 der Super-Alten (zwei Drittel davon in der Region Osaka/Kobe) seit Dekaden nicht mehr gesehen wurden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.