„Kinder müssen Risiken eingehen dürfen“

Immer mehr Mütter wollen ihre Kinder vor jedem Übel behüten – und behindern damit deren Entwicklung, sagen Expertinnen.

Wien.Maximilian ist eineinhalb und noch etwas wacklig auf den Beinen. Trotzdem erkundet er gerne seine Umgebung. Damit er nicht auf die Nase fällt, ist seine Mutter ständig hinter ihm – und fängt ihn auf, wenn er zu stolpern droht. Anita ist zwölf. Wenn ihre Freundinnen am Nachmittag ins Bad gehen, muss sie zu Hause bleiben. Ihre Mutter, Praktische Ärztin, hält die Keime im Wasser für gefährlich. Matthias ist neunzehn. Wenn er abends zu einer Party fährt und die Adresse nicht findet, lässt er sich per Handy von seinem Vater lotsen. Dieser weiß zwar, dass es vernünftiger wäre, dem Buben einen Stadtplan in die Hand zu drücken, „aber er hat eh so viel am Hals. Und wenigstens weiß ich, wo er sich herumtreibt.“

In all den geschilderten Fällen meinen es die Eltern gut mit ihren Kindern – zu gut. „Die Autonomieentwicklung der Kinder wird behindert, wenn diese nie in schwierige Situationen kommen dürfen. Denn durch die Bewältigung solcher Situationen werden Fähigkeiten geschärft und Selbstwertgefühl wird aufgebaut,“ sagt etwa die Erziehungsberaterin Barbara Neudecker. Erziehungshaltungen hätten sich in den letzten 20, 30 Jahren geändert. „Vieles, was früher als selbstverständlich galt, wird heute als Vernachlässigung der Aufsichtspflicht angesehen. Etwa ein Kind den ganzen Nachmittag alleine in den Park zu schicken. Insgesamt sind Eltern vorsichtiger, behütender. Und es gibt vor allem Mütter, die das übertreiben.“

Perfekte Aufwachsbedingungen?

Doch wo ist die Grenze zwischen zu viel und zu wenig Behütung? „Das Kunststück in der Erziehung ist es, den Kindern zu vermitteln: Die Welt ist an sich gut, es gibt aber Situationen, die gefährlich sind. Für Mütter, die overprotective sind, ist die Welt außerhalb der Familie jedenfalls gefährlich“, so Neudecker. Ein Grund für „Overprotectiveness“ sei der steigende Erwartungsdruck an Mütter, meint die Erziehungswissenschaftlerin Judith Barth-Richtarz: „Die psychische und physische Entwicklung von Kindern wird immer mehr gemessen und verglichen. Mütter fühlen sich verpflichtet, ihrem Kind perfekte Aufwachsbedingungen zu bieten. Dadurch nimmt das kontrollierende Verhalten zu.“ Auch die bewusstere Entscheidung zum Mutterwerden spiele eine Rolle. „Viele gehen dann ganz im Muttersein auf, ihr ganzer Selbstwert hängt davon ab.“

Das überbehütende Verhalten löse oft einen Teufelskreis aus. „Der Erfahrungsraum der Kinder wird eingeschränkt, dadurch lernen sie weniger, alleine mit Problemen fertigzuwerden. Die Folge ist, dass sie die Mutter noch mehr brauchen. Irgendwann ist die überfordert, und es kommt zu Konflikten,“ so Barth-Richtarz. Wie löst man das Dilemma? Vor allen gilt es, denn Müttern die Ursachen für ihr Verhalten klarzumachen, meinen die Expertinnen. Neudecker: „Oft sind das Mütter, die als Kind selber schlimme Erfahrungen gemacht haben. Oder die ihre Kinder schon in bedrohten Situationen erlebt haben, z. B. als Frühgeburt.“ „Auch Schuldgefühle können da mitspielen,“ sagt Barth-Richtarz, „etwa wenn das Kind nicht geplant war.“ tom

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2008)

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