Vor allem Buben sind ein "Problemfall" - ihnen scheinen die Vorbilder zu fehlen, weil Väter kaum vorlesen. Wer aber ist für die Leseschwäche der Schüler verantwortlich: Eltern, Schule oder Gesellschaft?
Wien. Platz 31 im Lese-Ranking der 34 OECD-Länder: Das österreichische PISA-Ergebnis bei der Lesekompetenz ist desaströs. Warum ist das Lesen die große Schwäche der heimischen Schüler, wer trägt die Verantwortung?
„Die wirklich entscheidenden Grundlagen für das Lesen werden in der frühen Kindheit gelegt“, sagt Christine Garbe, Lese-Expertin an der Universität Köln. Das beginnt mit dem Spracherwerb und der Reichhaltigkeit des Wortschatzes und reicht bis zur Lesekultur innerhalb der Familie. „Wenn Kinder ihre Eltern nie lesen sehen, fangen sie auch selbst nicht damit an“, sagt Karl Blüml vom Wiener Stadtschulrat. Tatsächlich scheinen vor allem Buben die Vorbilder zu fehlen, weil Väter kaum vorlesen: Rund 61 Prozent der Buben geben in der PISA-Studie an, nur zu lesen, „wenn sie müssen“ – im Vergleich zu 39 Prozent der Mädchen. Die Burschen schneiden so auch bei der Lesekompetenz wesentlich schlechter ab als ihre Altersgenossinnen (siehe Grafik).
Probleme beim „Reflektieren“
In sozial schwachen, bildungsfernen Familien wird besonders wenig gelesen, die Kinder kommen oft mit sprachlichen Defiziten in die Volksschule. „Schule hat die wesentliche Aufgabe, die Unterschiede, die sich aufgrund der sozialen Herkunft ergeben, auszugleichen“, sagt Blüml. „Es gibt keine andere Institution, die das könnte.“
Auf diese Aufgabe seien Schulen bisher nicht genügend vorbereitet worden, meinen Experten. Das zeigt auch PISA. Je nach Bildungsstand der Eltern unterscheiden sich die Schülerleistungen beim PISA-Test um bis zu 120Punkte. Besonders wenn es ums Verstehen geht: 477Punkte erreichten die heimischen Schüler im Bereich „Informationen ermitteln“, beim „Reflektieren und Bewerten“ waren es nur 463. „Alle Kinder lernen in der Schule, Buchstaben aneinanderzureihen und ein Wort zu erkennen. Es mangelt am Textverständnis“, meint Blüml.
Garbe fordert deshalb, besonderes Augenmerk auf die Leseflüssigkeit zu legen. Das müsse im Alter zwischen acht und zwölf Jahren passieren, sonst leidet das Verständnis. Dann müsse konsequent weitergearbeitet werden. In Österreich passiere das zu selten. Die Schüler werden vergleichsweise selten dazu angehalten, die Bedeutung eines Texts zu erklären oder die Geschichten, die sie lesen, zu ihrem Leben in Bezug zu setzen. Auch dass Lesen allein Aufgabe des Deutschunterrichts ist, sei ein „fundamentaler Irrtum“.
Immer wieder stellt sich die Frage der Motivation. Die Kinder müssten in ihren Alltagswelten abgeholt werden, sagt Agi Schründer-Lenzen von der Uni Potsdam. Im Fall der „Problemgruppe Buben“ könne das etwa heißen, sie mehr zum Lesen von Fachtexten zu animieren. „Mit Belletristik kann man sie nur schwer einfangen.“
Lesekultur im Wandel
Viele argumentieren, dass vor allem die fehlende Lesekultur im Land eine gewichtige Rolle spiele. Während das Zeitbudget für digitale Medien kontinuierlich steigt, wird es für die Printmedien geringer. Eine Entwicklung, die sich nicht nur in Österreich abzeichnet. Vor allem in den bei PISA gut abschneidenden asiatischen Ländern ist der digitale Medienkonsum enorm. Und dennoch: Dort gelingt es, die Lesekompetenz zu stärken. „Wenn das Lesen als Freizeitaktivität rückläufig ist, liegt die Verantwortung viel stärker in der Obhut der Schulen“, analysiert Garbe.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2010)