Verkehrte Hochschulwelt

Studierende bei der Gruppenarbeit an der FH St. Pölten.
Studierende bei der Gruppenarbeit an der FH St. Pölten. (c) Martin Lifka
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Sie heißen „Flipped Class“ oder „Inverted Classroom“ – neue Konzepte der Lehre, die in den USA und Skandinavien schon verbreitet sind, kommen nun auch an heimische Hochschulen.

Guten Morgen, was wollt ihr heute tun?“ Mit diesen Worten eröffnet Sigrún Svafar, Lehrende an der isländischen Keilir-Akademie, ihren Unterricht. Seit 2012 lehrt sie in der Erwachsenenbildung als „Flipped Teacher“ und sieht ihre Rolle weniger als Lehrerin, denn als Coach: „Ich sehe mich als Cheerleaderin. Meine Aufgabe ist, meine Studenten zu ermutigen und zu fördern.“ Beim „Flipped Class“-Konzept, auch „Inverted Classroom“ genannt, steht die Hochschulwelt Kopf: Nicht der Lehrende steht im Mittelpunkt, sondern der Student. Svafars Studenten sind erwachsene Schulabbrecher, die sich entschieden haben, trotzdem zu studieren: „Oft sind es Studenten mit schwierigen Hintergründen, z. B. Lernschwächen, sozialen Problemen oder besonderen Lebensumständen. Das Wichtigste für sie ist, dass sie lernen, wieder an sich selbst zu glauben.“

Frontalunterricht ade

Die Idee, den Studenten didaktisch aufbereitete Vorbereitungsmaterialien zur Verfügung zu stellen, ist an sich nicht neu. Die Innovation: Online erstrecken sich die Materialien über Quiz- und Assessment-Aufgaben sowie Lückentexte bis hin zu Videos oder Podcasts. Lehrende wie Svafar wollen Studierende darin bestärken, selbstständig zu forschen, und bemühen sich dabei um abwechslungsreiche Aufbereitung: Sie zeichnen in Tonstudios auf, drehen Videos und schrecken auch nicht davor zurück, Snapchat-Stories zur Wissensvermittlung einzusetzen. Wichtig sei, die Studierenden nicht mit Frontalunterricht zu langweilen, sondern die Unterrichtszeit dazu zu nutzen, Diskussionen anzuregen und den intellektuellen Austausch zu fördern, so Svafar.

Der Nutzen für die Studenten sei immens, meint auch Christian Freisleben, Fachverantwortlicher Inverted Classroom an der FH St. Pölten und Mitorganisator der Konferenz „Inverted Classroom and beyond“. „Das selbstständige Arbeiten fördert Schlüsselkompetenzen des digitalen Zeitalters wie Teamwork oder kreatives Denken.“ Die Motivation, sich Wissen selbstständig anzueignen, entstehe nicht zuletzt aufgrund des didaktischen Designs. So würden sich etwa die Prüfungsmodalitäten stark von bisherigen, eher starren Konzepten der Lehre unterscheiden: Studenten drehen selbstständig Videos, gestalten Multiple-Choice-Tests oder entwickeln ein Projekt mit Studienkollegen. „Es geht in erster Linie darum, Erlerntes anzuwenden und Wissen zu verknüpfen, nicht darum, Auswendiggelerntes in Kästchen zu schreiben“, betont Freisleben.

„Das Zauberwort heißt Vernetzung“, sagt Michael Kopp, Leiter der Akademie für Neue Medien und Wissenstransfer an der Universität Graz. Er wirft einen weiteren Begriff in den Raum und erklärt, dass der Trend in Richtung „seamless“ gehe, also dahin, physische und virtuelle Lernräume zu verbinden. Wie das gehen soll? „Studenten sitzen in den Seminaren vor ihren Laptops, Tablets und Smartphones und nutzen diese Geräte wie zu Hause auch – zur Recherche, zur Dokumentation und zur Kommunikation. Moderne Technologie macht es möglich, dass Inhalte, die im Seminar auf Flipcharts oder Folien geschrieben werden, beinahe zeitgleich auf die Mobilgeräte der Studierenden übertragen werden.“ So sei jedem Studenten zu jeder Zeit möglich, auf alle Inhalte zuzugreifen. Potenzial sieht Kopp auch im Einsatz von Augmented oder Virtual Reality (VR), besonders für Studienfächer wie Physik, Medizin oder Geografie. Ein Blick über den großen Teich führt zu einem weiteren Trend. In den USA bereits im Einsatz, werden bei „Learning Analytics“ Daten aus Prüfungsergebnissen und lernbezogenem Onlineverhalten analysiert, um Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen von Studierenden zu ziehen und individualisierte Lernkonzepte zu erstellen. Zukunftsvision auch in Österreich? Mit Einschränkungen, meint Kopp. „Der Datenschutz ist hierzulande zum Glück sehr strikt, was die Nutzung persönlicher Daten erschwert.“

Lehre an Uni zu wenig wert

Bis Professoren an österreichischen Unis zu VR-Brillen greifen, Videos drehen und Daten auswerten, wird es allerdings etwas dauern. „Der Einsatz von Technologien kostet Zeit und Ressourcen. Noch steht für viele Lehrende der Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zum Aufwand, sagt Kopp. „Wer als Wissenschaftler Karriere machen will, für den gilt noch immer: Berufen wird man wegen seiner Forschung, die Lehre spielt kaum eine Rolle.“

INFORMATION

Eine Fachtagung an der FH St. Pölten beschäftigt sich am 20. und 21. Februar unter dem Titel „Inverted Classroom and beyond. Lehren und lernen im 21. Jahrhundert“ mit innovativen Trends in der Hochschuldidaktik. Die jährliche Tagung wird von der FH St. Pölten und der Pädagogischen Hochschule NÖ in Kooperation mit der Uni Marburg veranstaltet und findet abwechselnd in St. Pölten und Marburg statt.

Web:https://skill.fhstp.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2018)

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