Mehrere tausend Demonstranten machen in Wien gegen das Bologna-Studiensystem mobil. Die europäischen Bildungsminister feiern dieser Tage ebendiese Uni-Architektur bei einer Konferenz in Budapest und Wien.
WIEN/BUDAPEST Eiskalt ist es, Schneeregen setzt ein. Doch ein harter Kern von Demonstranten gegen die neue Uni-Architektur, das „Bologna-System“, hat sich nicht abhalten lassen: Zwei bis dreitausend Studenten sind am Donnerstagnachmittag auf den Christian-Broda-Platz nahe dem Wiener Westbahnhof gekommen, um „Bologna“ wenigstens auf Plakaten und in Sprechchören eine Absage zu erteilen; im Laufe des Nachmittags werden es bis noch mehr: 3200 laut Polizei, die Organisatoren sprechen gar von bis zu 12.000 Menschen. Die mehr als 40 europäischen Bildungsminister freut es nicht: Sie feiern dieser Tage ebendiese Uni-Architektur bei einer Konferenz in Budapest und Wien.
Das neue System soll vom neuen „Bachelor“ über den „Master“ bis zum „Doktor“ führen und die Studien im europäischen Hochschulraum vergleichbar machen. Doch die Demonstranten klagen: Verschulung, zu wenig Bildung, zu viel Ausbildung im Vergleich zu den „alten“ Magister- und Diplomingenieur-Studien. Und die bessere Vergleichbarkeit? Schön in der Theorie, aber inexistent in der Praxis, so lautet der Tenor bei den Protesten.
Mehrere tausend Teilnehmer sind Mitte März vom Westbahnhof über die Mariahilfer Straße, die ehemalige Zweierlinie und die Ringstraße gezogen, um gegen das Bologna-Studiensystem und die Jubiläumskonferenz zu zehn Jahren Bologna-Prozess zu protestieren. VON BERNADETTE BAYRHAMMER UND GÜNTER FELBERMAYER
Nach einem verhältnismäßig ruhigen Start mit zwei- bis dreitausend Demonstranten am Christian-Broda-Platz wuchs der Protest bis am Abend an. Die Polizei sprach gegen Ende der Demo von etwa 3200 Teilnehmern, die Organisatoren der Demo gar von zehn- bis zwölftausend. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer)
Beim Parlament veranstalteten mehrere hundert Personen einen mehrminütigen Flashmob, stürmten die Rampen hinauf und enthüllten Transparente. Per Polizisten-Kette wurde die Parlamentsrampe geräumt.
Ansonsten verlief die Demonstration ohne Zwischenfälle. "Wir sind hier, und wir bleiben", war der Tenor. Viele Studenten sehen den Protest als Wiederaufleben der Demonstrationen vom Herbst. "Bildung für alle, und zwar umsonst" und ähnliche Parolen erinnerten an die Demos, die auf die Audimax-Besetzung folgten. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
Die Studentenprotestbewegung wird bei der Aktion unter dem Motto "Bologna Burns" von 63 Organisationen unterstützt. Darunter die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH), die Globalisierungskritiker von Attac, die Wiener Grünen, Gewerkschaftsvertreter und mehrere sozialistische und kommunistische Verbände. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
Der Grüne Kandidat für die Wiener Gemeinderatswahl, Autor Klaus Werner-Lobo, sieht die Demonstration als Zeichen für das Wiederaufleben des Protests gegen Bildungs- und Sozialabbau. "Und das wird noch mehr werden", sagt er (zum Interview).
Auf dem Christian-Broda-Platz kam bei der Auftaktkundgebung nur langsam Stimmung auf. Demonstranten schwenkten mit klammen Fingern Transparente. Vereinzelte Pfeifkonzerte und Parolen ("Make Bologna History") wurden kurz vor dem Abmarsch Richtung Ring lauter. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
Per Plakat kritisierten Demonstranten das Bologna-Studiensystem (mehr dazu: Bologna von A bis Z). Das neue System soll vom neuen "Bachelor" über den "Master" bis zum "Doktor" führen und die Studien im europäischen Hochschulraum vergleichbar machen. Die verpflichtende Studieneingangsphase (STEP) behindere den Studienfortgang gleich zu Beginn, kritisieren Studenten. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer)
Am Podium ging es unterdessen vielsprachig zu. Neben der linken ÖH-Chefin Eva Maltschnig (die neben dem Bologna-Prozess auch die Studienbedingungen im Allgemeinen kritisierte und dazu aus dem Studierenden-Sozialreport zitierte) waren Vertreter aus Italien, Serbien, Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern geladen. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer)
Aus Italien reiste eine rund 200-köpfige Delegation an. Aktivistin Sandy Veli aus Rom von dem Studenten-Netzwerk UniRiot freut sich über die Gelegenheit "zu sehen, was die anderen so machen". Italien sei das erste Land gewesen, in dem Bologna implementiert wurde, nun gehe es darum, sich international zu vernetzen.
Sprachwissenschafts-Student Jakob (Mitte) will zeigen "dass wir uns nicht alles gefallen lassen". Ob "Bologna Geschichte" wird, wie das die Demo fordert? "So naiv bin ich nicht", sagt Jakob. Eine andere Umsetzung wäre aber wünschenswert.
"Die Verschulung" kritisiert Politik- und Internationale Entwicklung-Studentin Iris (links) am meisten am Bologna-System. Kritisches Denken werde nicht mehr gefördert, alles drehe sich um einen "schnellen Abschluss".
Nach der Auftakt-Kundgebung und einem kleinen Tänzchen (zum Aufwärmen) ziehen die Studenten über die Mariahilfer Straße ...
... und die ehemalige 2er-Linie zum Hauptgebäude der Universität Wien und von dort zum Parlament.
Dort findet besagter Flashmob statt. Die Polizei drängt die Demonstranten von der Rampe, diese ziehen weiter in Richtung Hofburg ...
... wo vor verschlossenen Türen eine kurze Abschlusskundgebung stattfindet. Per Jingle werden noch Anweisungen gegeben, wie man sich bei der geplanten Blockade der anreisenden Minister zu verhalten hat (keine Gewalt, in Sechsergruppen aufteilen) und was man zu befürchten hat (Verwaltungsstrafe).
Dann ist die Demo offiziell beendet. Viele Teilnehmer schließen sich einem der farblich gekennzeichneten Blöcke an, die sich aufmachen, den Ministern, die am Abend aus Budapest anreisen, den Weg in die Hofburg zu versperren und ihnen dadurch zu zeigen, was "Zugangsbeschränkungen" sind.
Rund 150 Personen blockieren tanzend und trommelnd den Ring, es kommt zu kurzfristigen Wortgefechten mit Autofahrern. Die Polizei greift ein, als ein Einsatzfahrzeug ebenfalls blockiert wird, einige Demonstranten werden weggetragen, der Rest beendet kurz danach die Blockade freiwillig.
Mehr Bilder von der Demonstration ...
(c) DiePresse.com (Günter Felbermayer)
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''Wir tanzen nicht zu eurer Bolognese''
Uni-Hürden für die Politiker
Laut ist es auf den Straßen von Wien, die die Studenten einschlagen. Trommelwirbel und Technomusik machen sie im Schneeregen fit für den Protestzug. „Bologna abfeiern, nicht mit uns!“, steht auf Transparenten, die sie mit klammen Fingern in die Höhe halten. Oder: „Wie studiert der Depp? Step by Step“ – in Anspielung auf die laut Bologna verpflichtende Studieneingangsphase (STEP). Auf dem Podium am Broda-Platz haben Studenten aus mehreren Ländern das Wort ergriffen. Die linke ÖH-Generalin Eva Maltschnig zitiert aus dem jüngsten Studierenden-Sozialbericht, spricht von Depression unter Studenten, davon, dass viele unter der Armutsgrenze leben.
Der Chor ist ein europäischer – aber nicht für „Bologna“, wie sich die Minister das bei der Schaffung von „Bologna“ 1999 erhofft haben, sondern dagegen. Im Publikum sind Österreicher, Italiener, Kroaten, Deutsche. Dazu Politiker wie der Wiener Grüne Klaus Werner-Lobo, der von einem „Wiedererwachen“ der Proteste von 2009 spricht und das „toll“ findet. „Gemeinsam dem Bildungs- und Sozialabbau entgegentreten“ ist das Motto beim Umzug in Wien.
Nach dem offiziellen Ende der Demonstration wollen die Studenten den 46 Ministern Straßenblockaden bescheren: eine sichtbare Form von „Zugangsbeschränkungen“, die „Bologna“ etwa im Masterbereich nach sich ziehen werde. Rund 150 Personen blockieren tanzend und trommelnd den Ring, es kommt zu kurzfristigen Wortgefechten mit Autofahrern. Die Polizei greift ein, als ein Einsatzfahrzeug ebenfalls blockiert wird, einige Demonstranten werden weggetragen, der Rest beendet kurz danach die Blockade freiwillig.
Hightech in Budapest
Ähnlich war die Stimmung in Budapest, dem ersten Austragungsort der Politkonferenz, an der auch Wissenschaftsministerin Beatrix Karl (ÖVP) teilnimmt. Dolmetschpunkte, Infopoints, WLAN-Stationen, Security, daneben Pläne von Hausbesetzungen – die Organisation sowohl auf Studenten- als auch Regierungsseite ist stark. Hüben wie drüben trübt nur eines die aufgeheizte Stimmung der Studenten: dass „Bologna“, das ohnehin schon fast umgesetzt ist, nicht mehr zu stoppen sein wird.
Eines der Hauptziele des Bologna-Prozesses ist die Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse (siehe auch Bachelor, Master bzw. Doktorat/PhD). (c) AP
Erstabschluss nach mindestens drei Jahren im Bachelor/Master/PhD-System. Die Einführung des Bachelors in allen Staaten soll die Abschlüsse international kompatibel machen, zu mehr Mobilität führen und die Studienzeiten verkürzen. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Von 30 europäischen Staaten am 19. Juni 1999 unterzeichnet. Darin bekannten sie sich zum Ziel, bis zum Jahr 2010 einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Die Reform der Studienpläne war eine der augenscheinlichsten Elemente des Bologna-Prozesses. Meist vierjährige Diplomstudien mussten in Österreich in dreijährige Bachelor-Studien umgewandelt werden, an die sich zweijährige Masterstudien schließen. Die Überladung der Curricula ist auf die schlechten Umsetzungen durch die Unis zurückzuführen. Diese kritisieren, dass sie bei der Erstellung der Curricula unter Zeitdruck standen und die Reform „kostenneutral“ und ohne ministerielle Hilfe durchführen mussten. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Öffentliche Urkunde, mit dem der abgeschlossene Studiengang detailliert erläutert wird. (c) AP (Joerg Sarbach)
Dritter Abschluss des neuen Studiensystems. Erfordert eigenständige Forschung, als Arbeitsaufwand werden drei bis vier Jahre angenommen. In Österreich sieht das Gesetz eine mindestens dreijährige Dauer vor. Als Titel werden Doktor oder PhD (Doctor of Philosophy) verliehen. (c) APA (GUENTER R. ARTINGER)
Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht ist die EU nicht Initiator des Bologna-Prozesses. EU-Programme wie Erasmus unterstützen aber Bologna-Ziele wie die Förderung der Mobilität der Studenten. (c) AP (Virginia Mayo)
Im Bologna-Prozess gilt das Konsens-Prinzip. Das heißt, dass kein Land überstimmt werden kann. (c) Reuters (FRANCOIS LENOIR)
Gegen den Bologna-Gipfel wollen Studenten am 11. März mit einer am Westbahnhof startenden Demonstration protestieren. Am 12. März soll der in der Hofburg stattfindende Gipfel mit lauter Live-Musik übertönt werden. (c) Reuters
Durch das European Credit Transfer System (ECTS) sollen an den Hochschulen erbrachte Leistungen vergleichbar und damit auch grenzüberschreitend anrechenbar werden. Grundlage ist die Annahme eines in Stunden gemessenen durchschnittlich zu leistenden Arbeitsaufwandes für das Studium. Ein Studienjahr entspricht dabei 60 Punkten bzw. 1500 bis 1800 Arbeitsstunden. (c) AP (Daniel Maurer)
Zweiter Abschluss im neuen Studiensystem. Zugangsvoraussetzung ist die vorherige Absolvierung eines Bachelor-Studiums. (c) AP
Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Mazedonien, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, der Heilige Stuhl, Irland, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Moldau, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Türkei, Ukraine, Ungarn, Großbritannien und Zypern. Die Mitgliedschaft steht allen Ländern offen, die die Europäische Kulturkonvention des Europarats unterzeichnet haben. (c) AP (Franka Bruns)
Österreich ist seit dem Beginn des Bologna-Prozesses mit dabei. Bei der Umsetzung waren die nationalen Vorgaben bis vor kurzem besonders restriktiv: So durften etwa Bachelor-Studien nur dreijährig eingerichtet werden. (c) APA (HERBERT PFARRHOFER)
"Doctor of Philosophy" - dritter Abschluss im neuen Studiensystem (alternativ zum "Doktor") (c) EPA (ZHOU CHAO)
Dokumentation des Studienverlaufs. Ergänzt das Diploma Supplement um die detaillierte Auflistung von einzelnen absolvierten Modulen. Im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes soll es die erlangten Leistungen dokumentieren. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Probleme bei der Umsetzung gibt es vor allem bei der Umwandlung von vierjährigen Diplom- in kürzere Bachelor-Studien. In vielen Fächern wurden einfach alle Studieninhalte unverändert übernommen, was zu einer Überfrachtung der Ausbildung führte. Bachelor-Abschlüsse werden außerdem von vielen Arbeitgebern bzw. Standesvertretungen nicht als berufsqualifzierend angesehen. (c) AP (Thomas Kienzle)
Der Protest vieler Studenten richtet sich neben der Kritik an praktischen Umsetzungs-Problemen vor allem gegen die Reduktion des Studiums auf wirtschaftliche und berufsbezogene Kriterien. Das dreistufige Studiensystem führe außerdem zu "erhöhter sozialer Selektion", Master- und PhD-Programme würden sich zu einem "Eliteprogramm" verdünnen, heißt es etwa auf der Protestseite "http://bolognaburns.org". (c) AP (Markus Schreiber)
Schwerpunkt des Zeitraums bis 2020 ist die vollständige Umsetzung aller Bologna-Ziele, insbesondere im Bereich der Studienarchitektur, der Qualitätssicherung, der Anerkennung, der Beschäftigungsfähigkeit und der Relevanz der Abschlüsse für den Arbeitsmarkt, der Stärkung der sozialen Dimension sowie im Bereich des lebenslangen Lernens und der internationalen Kooperation. Bis 2020 sollen mindestens 20 Prozent der Graduierten im Europäischen Hochschulraum im Ausland studiert haben. (c) AP (Fabian Bimmer)
EU-Bildungskommissarin Vassiliou hat Verständnis für die Proteste gegen das Bologna-Studiensystem. Ex-Wissenschaftsminister Einem äußert sich ähnlich. Bei der Umsetzung sei "vieles nicht gelungen".
Das Ende der Bologna-Konferenz soll nicht das Ende der Protestbewegung sein. In Deutschland steht ein Protesttag auf dem Programm. In Österreich gibt es weiter den Hochschuldialog.