Jelinek: "Da ist die Hex'!"

Im November 1985 reist Elfriede Jelinek in die damalige deutsche Hauptstadt. Das Schauspiel Bonn produziert ein Stück von ihr. "Burgtheater", Jelineks Abrechnung mit dem Wessely-Hörbiger-Clan: die Geschichte eines Skandals.

Im November 1985 reiste Elfriede Jelinek in die deutsche Hauptstadt. Das Schauspiel Bonn produzierte zum zweiten Mal ein Stück von ihr. Elfriede Jelinek besuchte eine Probe, lobte die Mitwirkenden und konnte die Premiere kaum erwarten. "Burgtheater" sollte aufgeführt werden, fünf Jahre nachdem sie es geschrieben hatte.

Die Entstehungsgeschichte des Stücks geht zurück in das Jahr 1980. Klaus Manns lange Zeit verbotenes Buch "Mephisto" war eben von Istv¡n Szab³ verfilmt und von Ariane Mnouchkine dramatisiert worden. In dem Roman macht die Hauptfigur, der Komödiant Hendrik Höfgen, Karriere im Dritten Reich, der Mephisto-Darsteller und Intendant Gustaf Gründgens war für jedermann zu erkennen. Elfriede Jelinek sah sich den Film an, las das Buch noch einmal und wusste, dass sie ein Thema hatte. Die Willfährigkeit, mit der sich Künstler den Nationalsozialisten angedient hatten, wollte sie auf österreichische Verhältnisse umlegen. Die Protagonisten hatte sie parat: die Schauspielerin Paula Wessely und ihre Familie.

Seit den Fünfzigerjahren waren Paula Wessely und ihr Mann, Attila Hörbiger, das Königspaar des Wiener Burgtheaters. Und nicht nur sie beide waren am Burgtheater engagiert, sondern eine Zeitlang alle drei Töchter, Elisabeth Orth, Christiane und Maresa Hörbiger, zwei Schwiegersöhne und Attilas Bruder Paul Hörbiger. Dass Paula Wessely in der Nazizeit großes Ansehen als Filmschauspielerin genossen hatte, war vergeben und vergessen, genauso wie Paula Wesselys öffentliches Werben für Österreichs "Heimkehr ins Reich" 1938. Nach einem kurzen Berufsverbot 1945 hatte Paula Wessely umgehend Gelegenheit erhalten, sich reinzuwaschen, indem sie in dem Film "Der Engel mit der Posaune" (1948) eine verfolgte Halbjüdin verkörperte. Die Österreicher verehrten sie wie keine andere Schauspielerin.

Das Ausmaß von Wesselys Engagement für die Nazis war nicht zuletzt deshalb kaum bekannt, weil der schlimmste Film, in dem sie mitgewirkt hatte, verboten war: "Heimkehr" von Gustav Ucicky aus dem Jahr 1941. In dem nationalsozialistischen Propagandafilm sollte der deutsche Einmarsch in Polen verherrlicht werden, Wessely spielte eine Lehrerin in Luzk, die gemeinsam mit anderen Volksdeutschen von Polen und Juden traktiert wird, bis sie um Hilfe aus dem Reich fleht.

Elfriede Jelinek näherte sich ihrem Thema über eingehende Recherche. Sie las die einschlägige Wessely- und Hörbiger-Literatur, ging ins Österreichische Filmarchiv und ließ sich Filme aus der Nazizeit und Heimatfilme aus den Nachkriegsjahren ausheben. Tagelang saß Elfriede Jelinek im Dunkeln und schrieb mit. Darunter jenen Satz, den Paula Wessely in "Heimkehr" lächelnd zu einem zur Karikatur verzerrten jüdischen Händler sagt: "Sie wissen ja, wir kaufen nicht bei Juden."

Diesen und andere Sätze wollte Elfriede Jelinek allerdings nicht etwa zu einem Doku-Drama verarbeiten, sondern sie schrieb eine "Posse mit Gesang". So hatte Johann Nestroy seine Altwiener Komödien genannt, in denen sich die Figuren so lange um Kopf und Kragen reden, bis die Wahrheit ans Licht kommt. In "Burgtheater" sitzt eine gutbürgerliche Schauspielerfamilie am Esstisch, Vater Istvan und Mutter Käthe mit ihren drei kleinen Mädchen, die von der Mutter gezüchtigt werden. Der gutmütige Onkel Schorsch kommt zu Besuch, das Dienstmädchen Resi sorgt für Heiterkeit.

Im ersten Akt, der Anfang der Vierzigerjahre spielt, bereitet man sich auf die nächsten großdeutschen Aufgaben vor und verprügelt einen allegorischen, Ferdinand Raimund entlehnten Alpenkönig, der Geld für den Widerstand benötigt. Im zweiten Akt, angesiedelt vor der Befreiung Wiens durch die Rote Armee, möchte man panisch einen "Burgtheaterzwerg" beschützen, damit er sich bei den neuen Machthabern für die Familie einsetzt. Am Schluss versucht Käthe, sich und die Kinder umzubringen.

Elfriede Jelinek erfand eine eigene Kunstschriftsprache und versetzte sie mit Zitaten aus dem Wiener Bildungskanon, aus Operetten, Wiener Liedern und Theaterstücken wie Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende". Dazwischen legte sie die Filmdialoge, die sie mitgeschrieben hatte, und Selbstauskünfte der Familie Wessely. Die Mischung aus Älplerdialekt, Dienstbotenausländisch und Wienerisch imitiert jene Klangfarben, mit denen die Österreicher schon im Nazi-Film reüssierten. Schorsch: "Man konn jo nicht immer lochen, net wahr. Der Ernst der Stunde verlangt gebieterisch noch einem in Großdaitschlond ollgemein verständlichen Schriftdaitsch. Alpen- und Donaugaue fiegen sich." - Käthe: "Das daitsche Publikum aller Stämme will auch juchzen! Nur eine ainmalige künstlerische Begebenheit wie ich verhilft dazua. Österreichertum." Elfriede Jelineks Haltung, ob zur Politik oder zur Gesellschaft, äußert sich immer über die Sprache. In "Burgtheater" kommen aus dem Mund der Figuren, die behaupten, von nichts gewusst zu haben, Worte, die keinen Sinn ergeben.

Im Schlussmonolog von "Heimkehr" träumt die von Wessely dargestellte Lehrerin von einem Land, in dem alles deutsch ist, "die Krume des Ackers und das Stück Lehm und der Feldstein und das Zittergras und der schwankende Halm, der Haselnussstrauch und die Bäume". In "Burgtheater" stehen am Schluss alle um die blutende Käthe herum. Was sie abwechselnd deklamieren, klingt wie der Albtraum eines Landes, in dem alles österreichisch ist. Ein Ausschnitt: "Des Pferterl. Die Laschur. Das gspiebene Äpfelkoch. Strauß Waani. Klamm Knochwien. Der Hammerring. Der Semmerkalt. Der Jagerkrepp. Der Wüderer. Das Knüppelhäusel. Königottokarsglückundende. Das Haus Habswürg. A Gasmüch. Das Judensternderl. Mamsch und Papsch. Das Musikkazett." Das sogenannte Burgtheaterdeutsch, in Österreich gerne für das einzig wahre Deutsch gehalten, ist in "Burgtheater" ein Gewust Freudscher Versprecher, die abgrundtiefe Bösartigkeit ans Licht bringen.

1981 hatte Elfriede Jelinek "Burgtheater" in einer vorläufigen Fassung fertig. Der nächste Schritt war typisch für sie. Sie wollte "Burgtheater" im Auge des Taifuns aufgeführt sehen, am Wiener Burgtheater. Tatsächlich fühlten sich zwei Dramaturgen, Reinhard Urbach und Klemens Renoldner, mutig und trafen sich heimlich mit Elfriede Jelinek. Sie schlugen ihr vor, eine Art szenische Lesung daraus zu machen; Beziehungen zu lebenden Personen sollten - wie immer das gehen mag - als rein zufällig erscheinen.

Man saß im Caf© Landtmann, gegenüber dem Burgtheater, und war ganz aufgeräumt, voller Besetzungsideen und Überlegungen, wie man den Direktor dafür gewinnen könnte. Einen öffentlicheren Ort, um Vertrauliches zu besprechen, als das Caf© Landtmann wird man in Wien allerdings kaum finden. Die Neuigkeit landete schneller bei der Presse als eine Melange auf dem Kaffeehaustisch. "Das wird der größte Theaterskandal: Burgtheater will Elfriede Jelineks ,Burgtheater' mit Erika Pluhar spielen!", stand wenige Tage später in der "Kronen Zeitung". Der Direktor tobte, der künstlerische Betriebsrat, der sich sofort mit einigen älteren Ensemblemitgliedern besprochen hatte, drohte. Das Stück war für das Haus nie wieder ein Thema. Selbst Claus Peymann, der später als Burgtheaterdirektor keinen Skandal ausgelassen hat, wollte es nicht aufführen. Wie seine Dramaturgin Rita Thiele erzählt, wollte er nicht verantwortlich gemacht werden, falls die betagte Doyenne Wessely in seiner Amtszeit gestorben wäre.

Elfriede Jelinek selbst bestritt zwar kokett, "dass man das Stück in Wien oder sonstwo in Österreich spielen kann", aber sie wollte ihren Text auf jeden Fall abgedruckt sehen. Wenn Elfriede Jelinek überzeugt ist, dass sie Recht hat, dann möchte sie ihre Sache durchgesetzt haben. Widerstand, der in Österreich meist als Mischung aus Bequemlichkeit und vorauseilendem Gehorsam daherkommt, spornt sie nur an. Sie schickte den Text an die "protokolle". Es handle sich "um ein sehr heißes Eisen", schrieb sie an Otto Breicha. "Sie werden sicher merken, wer mit den Personen gemeint ist: die heilige Kuh des Wessely-Hörbiger-Clans. Alles ist genauestens recherchiert, aber man riskiert natürlich etwas damit." Breicha wehrte ab. Eine Veröffentlichung würde "an der Residenz des Clans gehörige Kreise ziehen". Er riet zu einer österreichischen Lösung: Man müsse erst die Druckversion so verschleiern, dass nicht nachzuweisen sei, wer gemeint ist, und "man sich, wenn es drauf ankommt, blöd stellen kann".

Elfriede Jelinek arbeitete das Stück noch einmal um, ließ im zweiten Teil die Figur des Schorsch - Paul Hörbiger war einige Tage in Nazi-Haft gewesen - etwas besser dastehen. "Auf keinen Fall will ich Sie in Schwierigkeiten bringen", schrieb sie an Otto Breicha, "dafür haben Sie auch viel zu viel für mich getan, damals, im Anfang." Und sie dachte, wie immer einmal, wenn sie nicht weiterkam, halb wütend, halb verzweifelt, an Rückzug. "Ich möchte übrigens diesen Beruf jetzt endgültig aufgeben, zumindest für längere Zeit, so hätte sich bei Ihnen der Kreis sozusagen geschlossen. Behalten Sie das Stück doch als Andenken!"

Dann unternahm sie einen nächsten Anlauf, diesmal bei den "manuskripten". Auf wenigen Seiten, in winziger Schrift zusammengepresst, erschien in der Zeitschrift 1982 ein vollständiger Vorabdruck von "Burgtheater". Dieser war flankiert von einem "presslichen Vorstoß" in "profil", den Elfriede Jelinek lanciert hatte. Beides ohne die erhofften Folgen.

Das Stück nahm schließlich Peter Eschberg an, der Intendant des Schauspiels Bonn. Eschberg war mit etlichen Schauspielern, Regisseuren und Dramaturgen über Wien nach Bonn gekommen und hatte bereits Erfahrung mit Stücken von Elfriede Jelinek. Hans Hollmann, damals am Zenit seines Erfolgs, hatte 1982 die Uraufführung von "Clara S." inszeniert, in dem die Pianistin Clara Schumann im Italien der Zwanzigerjahre auf Gabriele d'Annunzio trifft und ihren verdämmernden Mann Robert umbringt. Die Vorstellungen von "Clara S." hatten für Massenfluchten und den Einsatz von Trillerpfeifen im Publikum gesorgt, zudem erregten die kleinen Schweinereien im Text bildungsbürgerlichen Protest in der Schumann-Stadt Bonn.

Bei der "Burgtheater"-Premiere im November 1985 war die Stimmung unter den Machern aufgeräumt. Obwohl Wien von Bonn weit weg war, fühlte man doch einen gewissen Thrill. Auch war eine Vielzahl von
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Premierengästen extra aus Wien angereist. Doch blieb ein Skandal in Bonn aus. Horst Zankl hatte "Burgtheater" komödiantisch-locker ins Werk gesetzt, der Abend wurde eher wie ein Naturereignis bestaunt.

Die Welle der Empörung ging kurz darauf in Wien hoch. Als wären es Jelinek-Figuren, deren Sprache immer eine Nummer größer ist als die Figuren selbst, nahmen nun alle aufgeregt Stellung. In der "Kronen Zeitung" meinte Michael Jeann©e über Elfriede Jelinek: "Das Resultat und die Folge dieser ihrer Minderbegabung: ein widerliches Machwerk, in dessen Mittelpunkt eine perverse, sabbernde, brutale und exzessive Schauspielerfamilie steht, die Hörbigers." In "profil" meinte Peter Michael Lingens: "Sie muss wissen, dass Attila Hörbiger 90 Jahre alt und von brüchiger Gesundheit ist; dass die so gnadenlose Darstellung eines weit zurückliegenden und wohl auch lässlichen politischen Versagens ihn in einem Maß erregen könnte, das zu einem Versagen seines Herzens führt."

Der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, der noch 1984 als Kunstminister Elfriede Jelinek den hoch dotierten Würdigungspreis für Literatur verliehen hatte, gratulierte Paula Wessely und Attila Hörbiger zur Goldenen Hochzeit und sagte demonstrativ: "Diese Stadt weiß, was sie ihren Künstlern schuldig ist." Am souveränsten reagierte Paula Wessely: Sie wolle das Stück nicht verbieten lassen; es tue ihr Leid, dass ihr der Mut gefehlt habe, die Dreharbeiten zu "Heimkehr" abzubrechen.

Mit "Burgtheater" wurde Elfriede Jelinek eine öffentliche Person, denn im Unterschied zu "Mephisto" spielte sich die Auseinandersetzung um dieses Stück zwischen (in derselben Stadt) Lebenden ab. Nicht die Vergangenheit der Hörbigers wurde infrage gestellt, sondern Elfriede Jelinek, die sie recherchiert hatte. Sie war ab jetzt eine "Nestbeschmutzerin" im Hause Österreich. In ihrer Selbstsicht markierte der "Burgtheater"-Skandal für Elfriede Jelinek den "Abstieg" in der öffentlichen Meinung in Österreich. "Ich hätte schwebend mit einem Strahlenkranz in der Wiener Innenstadt als Engel erscheinen können, und die Leute hätten geschrien: Da ist die Hex'!"

Aber so hartnäckig, wie sie sich Abdruck und Aufführung erkämpft hatte, verteidigte sie auch ihre Position. Wessely als Typus und als Person blieb auch die nächsten 20 Jahre ein Thema, im Grunde bis zu Paula Wesselys Tod 2000. "Burgtheater" wurde schließlich 2005, ein Vierteljahrhundert nach seiner Entstehung, in Österreich erstaufgeführt. Elfriede Jelinek gab dem Grazer "Theater im Bahnhof" die Rechte, obwohl der Rowohlt Theater Verlag normalerweise Off-Bühnen keine Stücke von Elfriede Jelinek überlässt. Wenn sich das Burgtheater schon nicht traute, das Stück der Literaturnobelpreisträgerin auf die Bühne zu bringen, dann bekam es eben eine Ex-Studententheatergruppe aus Graz.

1986 wurde Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt, und der Kärntner Jungpolitiker Jörg Haider setzte sich an die Spitze der FPÖ. Beides prägte das Land nachhaltig. Waldheim, der vergessliche Präsident, konnte sich der Sympathie eines Großteils seiner Landsleute erfreuen und katapultierte das Land international ins Abseits. Haider richtete seine Partei rechtspopulistisch aus und begründete das, was seine Gegner später "Feschismus" nannten - die Ausgrenzung all derer, auf die das Jungsammafeschsamma nicht zutraf.

1986 war auch das Jahr, in dem Elfriede Jelinek als erster Frau der Heinrich-Böll-Preis verliehen wurde. Als sie im Dezember nach Köln fuhr, um den Preis entgegenzunehmen, nützte sie die Gelegenheit, um zur politischen Situation in Österreich Stellung zu nehmen. Seit "Burgtheater" wollte sie gehört werden, und sie wollte, dass ihr Anliegen von denen gehört wird, die es angeht. Die politische Öffentlichkeit war ihr neuer Spielraum geworden, die kindische Verweigerung eines Landes, Verantwortung zu übernehmen, wurde ihr Leitmotiv. Ihre Dankesrede trug den Titel "In den Waldheimen und auf den Haidern". Sie machte darin die gemütliche Arroganz Österreichs zum Thema, sich vor allem wegzuducken und dafür auch noch geliebt werden zu wollen. "Wir müssen uns nur im richtigen Moment klein machen, damit man uns nicht sieht und auch unsere Vergangenheit nicht, wenn wir Bundespräsident, also das Höchste, was es gibt, werden wollen. Und wir müssen uns im richtigen Moment auch groß zu machen verstehen, damit wir - gebührend und nicht ungebührlich - in die Weltpresse hineinkommen, und zwar selbstverständlich positiv, denn wir leben ja wirklich in einem schönen Land, man kann es sich anschauen gehen, wann immer man will!" In Österreich, so berichtete sie ihren Zuhörern, würde kritischen Künstlern die Emigration nicht nur empfohlen, "sie werden auch tatsächlich vertrieben, da sind wir gründlich. Ich erwähne nur Rühm, Wiener, Brus." Bernhard und Handke würden wie Staatsfeinde behandelt.

Die Reaktionen waren im Ton noch untergriffiger als zu "Burgtheater"-Zeiten. Denn schlimmer, als Österreich schlecht zu machen, ist in Österreich nur: Österreich im Ausland schlecht zu machen, insbesondere bei den "Daitschen". In Zeitungsartikeln wurden Sätze aus Elfriede Jelineks Büchern, meistens solche, die Körperlichkeit und Sexualität betrafen, aus dem Zusammenhang gerissen und gegen die Autorin verwendet.

So versuchte der Kolumnist der Rubrik "Menschlich gesehen" im "Kurier", in Elfriede Jelineks Büchern "Anhaltspunkte für die Wesensart einer Frau zu finden, die pauschal ein ganzes Volk verunglimpft". Er notierte Passagen aus der Prosa "Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr" und schrieb: "Doch ist es die Flagge der ,Dichterin', die hier gezeigt wird - der ,Stoff', aus dem sich ihre Träume formen: die Klomuschel, der Brechreiz, ihr Gespeibsel, ihr saurer Achselschweiß und ihre Pisse - der Sadomasochismus, der sie quält, der Ekel vor sich selbst. Sie ist eine typische Vertreterin einer Literatengeneration, die sich so mies fühlt, dass sie auch alles rundum mies machen muss."

Elfriede Jelinek nutzte indes jede Gelegenheit, um gegen Kurt Waldheims "Vergesslichkeit" zu protestieren. Sie stand am Tag vor seiner Angelobung vor der Zentrale der ÖVP und warf ihm in einer "Grußadresse" entgegen, er habe sich "entlarvt als Kumpel der antisemitischen Stammtischgröler". Sie saß im dritten Rang des Grazer Schauspielhauses, während Waldheim auf der Bühne den "steirischen herbst" eröffnete. In einem offenen Brief hatte Jelinek gegen sein Erscheinen protestiert: "Sie haben Ihre Vergangenheit vergessen. Wir würden gern vergessen, dass Sie unser Bundespräsident sind."

Im Juni 1987, ein Jahr nach der Wahl Waldheims, ging sie auf die Straße. Vor dem Wiener Stephansdom, an jener Stelle, an der jemand im Zweiten Weltkrieg "O5" ins Gemäuer eingeritzt hatte, das Symbol für den österreichischen Widerstand, fand eine Mahnwache statt. Elfriede Jelinek verteilte Flugblätter: "Wir können nicht wissen, wie wir uns damals verhalten hätten, aber wir wissen, wie wir uns verhalten hätten sollen. Wir ehren die Helden des österreichischen Widerstandes, wir gedenken der Opfer."

Auch einen Theaterscherz widmete sie dem "Österreicher, dem die Welt vertraut", wie einer von Waldheims ersten Wahlslogans gelautet hatte. Für ein Theaterfest des Literaturhauses Berlin schrieb sie eine Paraphrase auf Nestroys "Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl". Das Stück handelt vom Gipfeltreffen zweier Kannibalenhäuptlinge, deren Heiratsgeschäft daran zu scheitern droht, dass dem Gast (vermeintlich) der eigene Sohn zum Fraß vorgesetzt wird. Jelineks Bearbeitung trägt den Titel "Präsident Abendwind", mit den beiden Oberkannibalen sind Waldheim und sein letzter politischer Freund, Franz Joseph Strauß, gemeint. "Wenn einen kein Mensch versteht, das is national", lautet ein typisches Bonmot aus Nestroys Stück. Elfriede Jelinek lässt den isolierten Abendwind sagen: "Wenn man eine Kultur hat, die was ein jeder versteht, das ist dann international. Hier bin ich und hier bleib ich. Hier fress ich und hier speib ich." Gefressen wird der Präsident am Ende selbst, die Überlebenden stimmen den berühmten Refrain aus der "Fledermaus" an: "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist." In Österreich wurde "Präsident Abendwind" nur einmal aufgeführt, natürlich erst nach dem Ende der Ära Waldheim. [*]

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