Wir waren dabei

Es begann vor 20 Jahren: wie der Fall Waldheim das Denken und das historische Bewusst- sein einer ganzen Generation veränderte.

Frühjahr 1987. Bundespräsident Waldheim war seit zehn Monaten im Amt. Die Diskussion hatte sich längst von seiner doch eher unbedeutenden Person und deren persönlicher Vergangenheit abgelöst und kreiste nun um die lange verschwiegene nationalsozialistische Vergangenheit des Landes, mehr und mehr auch um die Frage, wie die Zweite Republik seit der Unabhängigkeitserklärung am 27. April 1945 mit dieser Vergangenheit umgegangen ist, um den sogenannten "Opfermythos" also und seine tiefe Verankerung im österreichischen Bewusstsein, um die erfolgreiche Abwälzung jeder Schuld auf "die Deutschen" - was uns ja bis zu Waldheim auch international geglaubt worden ist -, um dieses daraus resultierende unerschütterliche Gefühl eigener Unschuld, um die aggressive Abwehr jeder Verantwortung, um Ausbrüche eines neuerdings wieder offe-nen Antisemitismus, kehrte aber zwischendurch doch immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt, der Figur Waldheim und ihrer Geschichte, zurück.

Noch war nichts entschieden. Waldheims überlegener Wahlsieg im Juni 1986 hatte zwar die patriotische Front, die sich in ihren steten österreichischen Unschuldsbeteuerungen zudem auf die Moskauer Deklaration von 1943 berufen konnte, noch einmal befestigt - aber sorgenvoller Patriotis- mus fand sich auch auf der Gegenseite. Schon während des Wahl- kampfs hatte es in ei- nem offenen Brief an Kurt Waldheim gehei- ßen: "Eine Diskussion über den Antisemitismus hat begonnen, und die Formen der politischen Auseinandersetzung haben längst die Grenzen des Erträglichen überschritten. Das alles zusammen ist ein schwerer Schaden für die Demokratie in Österreich. Es kann nicht geleugnet werden, dass Ihre Kandidatur zum Kristallisationspunkt für all diese Probleme geworden ist . . . Um noch Ärgeres zu verhüten, gibt es nach unserem Dafürhalten nur einen Weg: Wir ersuchen Sie, im Interesse unseres Vaterlandes von der Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten Abstand zu nehmen." Sehr vaterländisch und ganz erfolglos.

Im September 1986, drei Monate nach der Waldheim-Wahl, hatte Jörg Haider den Vorsitz der FPÖ übernommen, und der lange Zeit scheinbar unaufhaltsame Aufstieg dieses Politikers und seiner Partei begann. Auch dieses ist nicht vorstellbar ohne die tiefe Kränkung, die das Land durch den Fall Waldheim erfahren hat. Als wäre mit brutalem Riss eine Tuchent weggezogen worden, und was mehr als vier Jahrzehnte in gnädiges wärmendes Dunkel gehüllt war, wurde sichtbar. Ein schockierender Anblick. Schnelles Schließen der Augen half nicht. Nicht einmal die wütenden Anweisungen der "Kronen Zeitung" boten Trost.

Denn inzwischen war Österreichs Nazi-Vergangenheit zur internationalen Affäre geworden, und "New York Times", "Le Monde" und "Süddeutsche Zeitung" ließen sich weder von Dichand noch von der ÖVP etwas vorschreiben. Ohne die Bedeutung österreichischer Medien - allen voran das "profil" - und österreichischer HistorikerInnen gering schätzen zu wollen: Dass der Fall Waldheim zu einer derart intensiven, kontroversiellen und schmerzhaften Selbstbefragung des Landes geführt hat, wä- re ohne die ständige Berichterstattung und den beharrlichen Druck ausländischer Medien, die ja von allem Anfang in die Geschichte involviert waren, nicht gelungen. - Doch im Frühjahr 1987 schien eine gewisse Beruhigung eingetreten, ei- ne Erschlaffung. Als hätten sich die Gegner des Bundespräsidenten mit diesem abgefunden - und letztlich auch mit dem Wiederzudecken, Vertuschen und Nichterinnernkönnen. Keine guten Aussichten für das "Bedenkjahr" 1988, in welchem sich entscheiden sollte, ob und wie das Land zu seiner eigenen Vergangenheit steht. Etwas musste geschehen. Ein Zeichen sollte gesetzt werden. So entstand im Mai 1987 bei einem gemeinsamen Abendessen der Ehepaare Charim und Huemer die Idee einer Mahnwache für den österreichischen Widerstand. Damit sollte klargestellt werden: Es geht nicht mehr um Kurt Waldheim, es geht um das Land. Nicht seine, sondern unsere Vergangenheit - und auch unser Umgang mit ihr - steht nun zur Diskussion. Und gleichzeitig sollte der Figur des vergesslichen Präsidenten der Repräsentant eines anderen Österreich gegenübergestellt werden: der Widerstandskämpfer, heldenhafte Frauen und Männer. Daher Mahnwache für den österreichischen Widerstand. Ein geradezu idealer, höchst symbolträchtiger Ort bot sich dafür an: das Zentrum der Stadt, der Wiener Stephansplatz, mit dem eingeritzten Zeichen O5, das für österreichischen Widerstand steht, an der Dommauer.

Den Initiatoren war klar: Wenn die Aktion Erfolg haben wollte, wenn sie überhaupt Beachtung finden wollte, dann musste ihr Konzept von größtmöglicher Konsequenz sein. Das hieß: eine Mahnwache "rund um die Uhr", auch um vier Uhr früh, wenn kein Mensch vorbeikommt. Immer müssen zwei Wächter vor dem O5-Zeichen stehen und ein Flugblatt verteilen, das den Sinn ihres Tuns auf allgemein verständliche Weise erläutert.

Dieses Flugblatt war deswegen wichtig, weil in der knappen Zeit bis zum Beginn der Aktion keine Möglichkeit bestand, die Mahnwache Stehenden argumentativ zu schulen, sie auf mögliche Fragen und Konfliktsituationen vorzubereiten - zumal die Initiatoren zum Zeitpunkt der Beschlussfassung ihrer Aktion noch gar nicht wussten, wer diese Freiwilligen auf dem Stephansplatz überhaupt sein könnten. Daher kam dem Flugblatt zentrale Bedeutung zu. Es sollte die Linie vorgeben, an die sich die Mahnwächterinnen und -wächter halten können, wenn sie angesprochen oder beschimpft werden.

Das Flugblatt begann mit der Feststellung: "1945 war nicht der Zusammenbruch, 1945 war die Befreiung Österreichs. Hitlers Niederlage war Österreichs Sieg. Darauf gründete sich die Zweite Republik." Heute sind das lauter Selbstverständlichkeiten, sollten es zumindest sein, aber 1987 war das noch keineswegs so, wie die hitzigen Diskussionen und lautstarken Streitgespräche auf dem Stephansplatz zeigen sollten. - Ein Problem dabei war, dass die Abkoppelung der Mahnwache vom Fall Waldheim nicht wirklich gelang, von den Initiatoren auch nicht konsequent genug angestrebt worden war, wie der Text des Flugblattes beweist. Auch die Daten der Aktion wiesen in diese Richtung: Die Mahnwache begann am 8. Juni 1987, dem ersten Jahrestag der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten, und endete am 8. Juli 1987, dem ersten Jahrestag sei-ner Angelobung. So kam es, dass die Ak-tion von vielen, insbesondere von der Österreichischen Volkspartei, ausschließlich als Anti-Waldheim-Aktion verstanden wurde, was sie aber nicht sein wollte und auch nicht war.

Daher lautete der Schlüsselsatz im Flugblatt, um sowohl dem Vorwurf der Selbstgerechtigkeit von Nachgeborenen als auch dem eines billigen Antifaschismus post festum, wenn es nichts mehr kostet, zu begegnen: "Wir können nicht wissen, wie wir uns damals verhalten hätten, aber wir wissen, wie wir uns hätten verhalten sollen. Wir ehren die Helden des österreichischen Widerstandes, wir gedenken der Opfer."

Verantwortlich als Veranstalter der Mahnwache waren die Psychologin Friedrun Huemer und der Rechtsanwalt Daniel Charim. Dieser führte die Verhandlungen im Erzbischöflichen Ordinariat, dessen Zustimmung für die Aktion vor dem Dom erforderlich war. Friedrun Huemer war letztverantwortlich für die Organisation, das heißt: dass auch tatsächlich immer zwei Menschen jeweils zwei Stunden lang vor dem O5-Zeichen am Dom standen. Dies erwies sich am Anfang als schwierig, vor allem in den späten Nachtstunden, da die Aktion auf große Skepsis stieß, nur wenige an ihren Erfolg glaubten und die Medien zunächst kein Interesse zeigten. Außerdem war die Vorbereitungszeit viel zu kurz gewesen. Die Österreichische Hochschülerschaft leistete wichtige Hilfe, erst später stießen andere Jugendorganisationen dazu. Überdies war in der ersten Woche das Wetter schlecht, und die Nächte waren kalt. Auch das spielt bei Gesinnungsmanifestationen im Freien eine Rolle.

Nach einer Woche, in der Friedrun Huemer fast jede Nacht selber am Stephansplatz gestanden war, schienen die Veranstalter am Ende ihrer Kraft. Die Aktion stand vor dem Abbruch. Da kam Andr© Heller von einer Reise zurück und erklärte sich sofort bereit, daran teilzunehmen. Der "Kurier" brachte ein Foto des Künstlers und einen kurzen Artikel: "Gegen das Vergessen: Mahnwache beim Dom". Damit waren wir zunächst einmal gerettet, und bald danach standen Karl Schwarzenberg und Axel Corti gemeinsam vor dem O5-Zeichen. Nun stiegen die Medien ein, es gab laufend Berichte, zumal immer mehr "Prominente" an der Mahnwache teilnahmen. Einige bekannte Namen: Valie Export, Barbara Frischmuth, Adolf Frohner, Alfred Gusenbauer, Peter Henisch, Elfrie-de Jelinek, Marie-Th©r¨se Kerschbaumer, Heinz Kienzl, Kuno Knöbl, Kurt Kocherscheidt, Hermann Langbein, Freda Meissner-Blau, Fritz Muliar, Günther Nenning, Ursula Pasterk, Anton Pelinka, Walter Pichler, Peter Pilz, Hanno Pöschl, Doron Rabinovici, Erwin Ringel, Peter Rosei, Gerhard Roth, Jutta Schutting, Brigitte Schwaiger, Peter Turrini, Peter Weibel, Michael Weinzierl. Die Liste ist unvollständig. Es gab eine Rolle, auf der sich alle Mahnwächterinnen und -wächter fortlaufend eingetragen haben, aber die ist verloren gegangen. Studentinnen und Studenten stellten das Hauptkontingent.

Nachdem die Anfangsschwierigkeiten überwunden waren, sich immer mehr meldeten und das Medieninteresse geweckt war, begann sich die Aktion in ungeahnter Weise zu verselbstständigen. Die Mahnwächter mussten nun am Gespräch gar nicht mehr selber teilnehmen. Allein ihre Anwesenheit genügte. Immer mehr Menschen kamen. "Wer in diesen Tagen über den Wiener Stephansplatz geht, sieht immer - bis weit in die Nacht hinein - eine Gruppe von 30, 40 Leuten vor dem Dom, wild diskutierend. Das hat die ,Mahnwache für den österreichischen Widerstand' ausgelöst, eine private Initiative österreichischer Bürger, die sagen: Wir wollen uns erinnern", schrieb der "Kurier" am 4. Juli 1987. In diesem Beitrag, der eine durchgehende Beobachtung der Mahnwache an einem Tag von 10 Uhr vormittags bis Mitternacht enthielt, werden auch wiederkehrende Stereotypen aufgelistet: "Ja, was hätten wir denn tun sollen", "Ihr könnt das ja nicht wissen, ihr wart ja nicht dabei", "Die Jungen werden nie verstehen, was wir mitgemacht haben unterm Hitler . . ." Daneben registrierte der "Kurier" auch rabiaten Antisemitismus: "Na, wissen S' eh, wer das initiiert hat?" "Nein." "Na, die Juden." Bis zu: "An ihrer Vernichtung sind die Juden zu einem großen Teil auch selber schuld!" Im Blick auf die Mahnwächter: "Die gehören doch alle vergast!"

In ihrer diskursanalytischen Untersuchung "Antisemitismus im Alltag: Gespräche bei der Mahnwache" bezeichnen Katharina Seifert und Ruth Wodak die Mahnwache als "eine (un)endliche Kette von ineinander fließenden Streitgesprächen" und stellen fest, es habe vier bestimmende Themen gegeben: Soldatsein im Zweiten Weltkrieg - Waldheim - die Rolle Österreichs und der Österreicher im Nationalsozialismus - christlicher Antisemitismus.

Der "verschämte Antisemitismus" sei jetzt wieder "unverschämt geworden", stellte Leopold Gratz, Vorsitzender der SPÖ Wien, Ende Juni 1987 fest. Die Vielzahl antisemitischer Ausbrüche auf dem Wiener Stephansplatz war tatsächlich bemerkenswert. "Falls die Kienzl-Umfrage stimmt, dass nur sieben Prozent der Österreicher Antisemiten beziehungsweise Faschisten sind - dann muss es so sein, dass diese sieben Prozent täglich den Stephansplatz bevölkern", schrieb die Alternativzeitung "akin". Es war nicht zu übersehen, dass manche regelrecht mahnwachesüchtig wurden, sowohl Befürworter als auch Gegner der Aktion. Sooft es ging, kamen sie auf den Platz, um zu erzählen, zu diskutieren, zu streiten. Für viele war es das erste Mal, dass sie so offen über sich und ihre Vergangenheit sprachen. Es gab erkennbar ein tiefes Bedürfnis, endlich darüber zu reden. Als eine "Psychocouch für Österreich" bezeichnete Friedrun Huemer die Mahnwache. Und Daniel Charim, drastisch: "wie ein Eiter, der herauskommt nach 40 Jahren".

Es war zwar Zufall, aber der passte, dass in die Zeit der Mahnwache das Bekanntwerden eines Briefes fiel, den der Linzer ÖVP-Vizebürgermeister Carl Hödl am 12. Mai 1987 an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, geschrieben hatte, beginnend mit der Anrede "Herr Bronfman" und grußlos endend. In diesem Brief schlägt Carl Hödl einen Bogen von Kurt Waldheim zu Jesus Christus: "Sie haben wider besseres Wissen diese Ihre Behauptungen von sich gegeben. Dann sind diese Behauptungen so zu werten, wie die Ihrer Glaubensgenossen vor 2000 Jahren, die in einem Schauprozess Jesus Christus zum Tode verurteilen ließen, weil er in das Konzept der Herren von Jerusalem nicht passte." Und weiter unten: "Aug um Aug, Zahn um Zahn ist nicht unsere europäische Auffassung. Diese talmudische Grundtendenz in aller Welt zu verkünden blieb Ihnen und Ihresgleichen vorbehalten." - Carl Hödl musste nicht zurücktreten. Er wisse nicht, was ein Antisemit sei, erklärte der Politiker, er selber sei jedenfalls keiner und wäre nie auf die Idee gekommen, "dass man mir diesen Brief als antisemitisch auslegt".

Diese Haltung ist nicht untypisch. Eine ständig wiederkehrende Formulierung auf dem Stephansplatz lautete: "Ich hab ja nichts gegen die Juden, aber . . ." Und dann kam es: können nie genug kriegen, können nie vergessen, jüdische Rache, jüdische Weltverschwörung. Wer es dezenter liebte, sprach von "Ostküste", meinte aber dasselbe. Und wenn von "gewissen Kreisen" die Rede war, wusste auch jeder, wer gemeint wurde. Doch die das sagten, waren lauter Leute, die weit von sich gewiesen hätten, Antisemiten zu sein. Der Antisemitismus war zentrales Element bei den Streitgesprächen während der Mahnwache. Ein "kleiner Hitler" müsse wieder her, hieß es wiederholt. Der Antisemitismus gehöre zu Wien wie die "Blunzn", schloss Axel Corti daraus im "Spiegel".

Die Mahnwache war ein Medienereignis. Walter Kindler, heute Professor an der Wiener Filmakademie, hat sie am ausführlichsten mit der Kamera dokumentiert. Zeitungsjournalisten, Radio- und Fernsehteams aus der ganzen Welt tummelten sich auf dem Stephansplatz. Dort fanden sie alle österreichischen Widersprüche gebündelt. Nicht nur die Wutschreie "Erschlagen!" und "Vergasen!" waren zu hören, sondern auch jenes andere Österreich, das sich dem entgegenstellte. "Oft ballten sich große Menschentrauben zusammen, mitunter dauerten die Gespräche bis fünf Uhr morgens. An lauen Sommerabenden erinnerte die Szene entfernt an die menschenübersäte Piazza einer italienischen Stadt. Doch eben nur entfernt: Ein Mädchen wurde von ihrem erregten Gesprächspartner von oben bis unten angespuckt", schrieb die "Zeit". Und im "stern" erzählte ein Wiener Jude, der im Ausland lebt, er sei wiederholt auf den Stephansplatz gegangen, den Antisemiten zuhören, um sich vorsorglich gegen drohendes Heimweh zu wappnen. Dazu passt, dass Friedrun Huemer mit einem amerikanischen Journalisten auf einer Bank im Rathauspark saß, in die ein Hakenkreuz eingeritzt war und "Juden raus". Es gibt Zufälle, die keine sind. "Ehrlich gesagt, es wird von Tag zu Tag schlimmer hier. Man spürt, wie die Aggression der Leute täglich wächst", beobachtete Christian Albert, ein ganz wichtiger Mitarbeiter, gegen Ende der Mahnwache. "Wir befinden uns in einem geistigen Bürgerkrieg", hatte Daniel Charim zu Recht festgestellt.

Ein Bürgerkrieg hat zwei Seiten. Es gab daher nicht nur den Mann, der Friedrun Huemer ohrfeigen wollte, es gab auch den anderen, der diesen daran hinderte. Und es gab Passanten, die auf den Stephansplatz kamen, das Flugblatt lasen und sich spontan entschlossen, an der Mahnwache teilzunehmen. Und Ende Juni erklärte die Wiener SPÖ, ab nun jeden Tag einen prominenten Politiker zu schicken. Es gab nicht nur Wut und Empörung, sondern auch Zustimmung und Dankbarkeit. Essen und Trinken wur-de den Mahnwächtern gebracht. Und eines Nachts, es könnte drei Uhr morgens gewesen sein, rollte ein Rolls-Royce aus der Fußgängerzone Kärntner Straße über den menschenleeren Stephansplatz. Meine Frau und ich, die Mahnwache hielten, rieben uns die Augen. Eine Fata Morgana mitten in Wien? Die Limousine blieb vor uns stehen, Heinz Schimanko stieg aus, in jeder Hand ein Glas mit Eiswürfeln, unter den einen Arm eine Flasche Whisky geklemmt und unter den anderen das Soda. Damit euch warm wird, meinte er.

Die Mahnwache war eine patriotische Veranstaltung, auch wenn sie von ihren Gegnern ganz anders gesehen wurde. Von einem Akt "geistiger Landesverteidigung" sprach Peter Henisch. Vor allem junge Menschen seien nachdenklich geworden, stellte Andr© Heller fest. Daniel Charim erklärte: "Wir wollen die Menschen in diesem Land wieder zusammenbringen." Und Friedrun Huemer in der "Süddeutschen Zeitung": "Nur so ist der Ruf Österreichs in der Welt zu retten, statt mit den törichten Image-Kampagnen des Auswärtigen Dienstes."

"Wozu Abfangjäger? Solange wir Waldheim haben, sind wir sogar als Feinde unerwünscht", lautete ein Spruch der "Literatur zum Pflücken" in jenen Wochen. 50.000 Flugblätter wurden auf dem Stephansplatz verteilt. Es gab auch eine englische Version für Journalisten und Touristen. Aber es ging nicht darum, dem Ausland etwas zu beweisen. Es ging um einen Akt der Zivilgesellschaft während jenes historisch überfälligen österreichischen Einsichtsprozesses in die eigene Geschichte, der in den Waldheim-Jahren begonnen hat. Dazu hat die Mahnwache auf dem Wiener Stephansplatz einen Beitrag geleistet.

Aber das hatte auch seinen Preis: Im Streit um Waldheim und um Österreichs Vergangenheit wurde der Grundstein gelegt für jenes Bündnis der tief Gekränkten im konservativen und rechtsextremen Lager, deren Geschichtsbilder damals zertrümmert worden sind. Seit 2000 regieren sie gemeinsam. [*]

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