Niemeyer: Planer Brasiliens, Meister der gebauten Welle

Oscar Niemeyer
Oscar Niemeyer(c) Reuters (SERGIO MORAES)
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Mit Oscar Niemeyer starb der Letzte der großen Architekten der Moderne. So kühn wie er hat niemand anderer mit Stahlbeton gespielt. Aber dem Kommunisten ging es nicht nur um Form, sondern auch um Gerechtigkeit.

Wenn Oscar Niemeyer zu Grabe getragen wird, nehmen Brasilien und die gesamte Architekturwelt Abschied vom letzten Zeugen einer untergegangenen Epoche. Von einer Art Dinosaurier einer Zeit, die heute unwirklich scheint, die es jedoch wert ist, in Gedanken hervorgekramt, in Monumenten bereist, in ihrer Idee studiert zu werden.

Die Biografie des Brasilianers, der gestern nur wenige Tage vor seinem 105. Geburtstag starb – er wäre am 15.Dezember gekommen – ist weder von der politischen Entwicklung seiner Heimat noch von deren spektakulärer Schönheit zu trennen. In einem Land tropischer Üppigkeit verheiratete er strenge Geometrien mit den fließenden Formen der umgebenden Natur und verlieh den Konstruktionen eine Leichtigkeit und Eleganz, die anderswo unerreicht blieb.

Atelier an der Copacabana

Niemeyer wurde 1907 in Rio de Janeiro geboren, einer Stadt, in der die Macht dieser Natur an allen Häuserkanten spürbar ist. Wenn der Landwind über die gekurvten Berge Richtung Meer braust, beginnen Luft und Wasser miteinander zu spielen, dann donnern die Wellen schon einmal aus sechs Meter Höhe auf den Strand, der als einer der schönsten der Welt gilt. Fast 70 Jahre lang beobachtete Niemeyer den Wellengang der Copacabana von seinem Atelier aus. Die Wellen und die Mädchen. Und die ewigen Fußballspieler im heißen Sand.

Er selbst war der Meister der gebauten Welle. Niemand vor und nach ihm hat mit dem Stahlbeton derart kühn gespielt. Seine Häuser scheinen auf geschwungenen Stützen zu schweben, seine Kirchen mit zarten Stahlbetonstreben den Himmel zu umarmen. Jedes Projekt ist eine große, in feinen Beton gegossene Skulptur und eine technische Meisterleistung der Sonderklasse. Wenn er in seinem Atelier über der Copacabana saß, hinter rundlich ausbuchtenden Glaswellen des Art déco, war er ein kleiner, fußballbäuchiger Mann. Hosenträger hielten statisches Gleichgewicht zwischen Hemd und Hose, und egal, in welcher Sprache die Konversation begann, sehr bald mündete das Gespräch in einen wortlosen Dialog zwischen Zeichenstift und Papier.

Er skizzierte, wie nur ganz alte Architekten skizzieren können. Stehend, die Linke in der Hosentasche. Die Linie kam aus der rechten Schulter, sie floss durch den Arm in den Daumen, übertrug sich auf den Stift, und Farbe und Papier wurden zum Medium, das die Geschichte eines Lebens in Bildern und Architekturen erzählte. Das große Kapitel darin hieß Brasilia, die Stadt, die Niemeyer gemeinsam mit Lúcio Costa in den späten 1950er-Jahren auf ein karges Hochplateau im Landesinneren zauberte. Die Wellen seiner Heimatstadt Rio nahm er damals mit und goss sie in Beton, und wenn der alte Mann Jahrzehnte später die wogenden Umrisse der Kathedrale Brasilias mit ihrer Dornenkrone malte, dann wohnte dem Gebilde immer noch eine enorme Kraft inne, die modern, weil zeitlos geblieben war.

Aberwitzigstes Städtebauprojekt

Mit dem Aufruf „50 Jahre Fortschritt in fünf Jahren!“ hatte Juscelino Kubitschek de Oliveira 1956 sein Amt als durch Mitte-Links geprägter Staatspräsident Brasiliens angetreten und das aberwitzigste Städtebauprojekt des 20. Jahrhunderts in Auftrag gegeben: Brasilia. Eine neue Hauptstadt im so gut wie menschenleeren rauen Hinterland der fünftgrößten Nation der Welt sollte die noch junge Republik einen. Lúcio Costa entwarf den Stadtgrundriss in Form eines gewaltigen Flugzeugs, Oscar Niemeyer füllte Rumpf und Flügel mit einem unnachahmlichen Mosaik glitzernder Architekturjuwelen. Die skulpturale Kraft dieser Architekturen wirkt heute noch so stark wie im April 1960, als die Stadt offiziell eingeweiht wurde. Gebäude wie der Alvorada Palast, die Kathedrale, das Kongresshaus sind zu Ikonen der Stahlbetonarchitektur geworden. Doch Brasilia blieb letztlich ein Schaupark der Moderne, eine seltsam menschenlose, prachtvolle Großplastik, nie wirklich zum Leben erweckt.

All jene, die Brasilia heute leichthin als bombastisch gescheitertes Experiment abtun, vergessen aber, dass Niemeyer und Costa abseits des Regierungsviertels mit den von der Architekturkritik kaum beachteten Wohnvierteln eine betont gerechte Stadt gebaut haben. Hier sollten alle sozialen Schichten unter einem Dach leben, mit aller Infrastruktur, mit Schulen, Kindergärten. Doch bereits 1964 putschte das Militär, die Diktatur übernahm die „Superquadras“, warf die Armen aus den Wohnungen.

Niemeyer, seit 1945 Mitglied der kommunistischen Partei, ging ins französische Exil, baute dort die Zentrale der kommunistischen Partei, baute eine Universität in Algerien, hatte Heimweh, kehrte erst viel später nach Rio zurück.

„Ich habe meine Architektur mit Mut und Idealismus gebaut“, resümierte er in seinen Memoiren, „Curves of Time“, „aber auch immer in dem Bewusstsein, dass das, was im Leben zählt, Freundschaft ist und der Versuch, diese ungerechte Welt zu einem besseren Ort zu machen“. In einem Interview, das er kurz vor seinem Tod einem brasilianischen Fernsehsender gab, sagte er: „Hätten wir eine flache, gerechte Gesellschaft, dann bräuchten wir keine Paläste für die Reichen.“ Davon habe er sein Leben lang geträumt.

Zusammenarbeit mit Le Corbusier

Weniger bekannte Arbeiten wie das städtebaulich fein gesponnene Ensemble für den Stadtteil Pampulha in Belo Horizonte aus den frühen 40er-Jahren bestätigen das. Zur selben Zeit plante er mit anderen jungen Architektenkollegen und dem damals bereits renommierten europäischen Star Le Corbusier ein Ministeriumsgebäude in Rio de Janeiro. Wenig später arbeitete er mit Le Corbusier am Hauptquartier der UNO in New York.

Niemeyer war bis zu seinem Tod aktiv, eröffnete erst 2010 einen Konzertsaal im italienischen Ravello, schenkte im selben Jahr dem spanischen Asturien die Pläne für ein kurviges Kulturzentrum für Avilés. Mit über 600 Gebäuden weltweit ist er einer der produktivsten Architekten der Geschichte. Bis zuletzt blieb er ein großer Freund der Kurve jedweder Ausprägung, sei es in Form der Welle, des brasilianischen Fußballs oder des weiblichen Körpers.

Mit knapp 99 heiratete er noch einmal. „Was wollt ihr eigentlich bei mir?“, fragte er hochbetagt eine Gruppe Architekturstudenten aus Wien, die sich in sein Atelier an der Copa verirrt hatten: „Da unten ist der Strand, da sind die Mädchen, der Fußball, das Meer. Die können euch mehr über Architektur beibringen als ich.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2012)

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