Marseille: Vorbei, das Lotterleben

Marseille darf sich heuer europäische Kulturhauptstadt schimpfen. Nur eine florierende Kriminalliteratur hält noch das zwielichtige Hafenimage hoch.

Nah am Wasser gebaut, dabei doch unerbittlich, hart und Furcht einflößend: Dieser unwahrscheinlich anmutende Eigenschaftenmix lässt sich recht gut für die Beschreibung der prototypischen Hafenstadt verwenden. Beziehungsweise der prototypischen Hafenstadt alten Schlags. Längst nämlich haben Stadtplaner oder Immobilienentwickler vielerorts die postindustriell brach liegenden Docks und nicht mehr genutzte Gebäudekomplexe als Revitalisierungsspielwiese erkannt. Die zum Wasser offenen Breschen mutieren häufig zu Vergnügungs- und Flaniermeilen, die nicht zuletzt Touristen anlocken sollen: Unter den europäischen Hafenstädten gilt nach wie vor Barcelona, das in den Jahren vor den 1992 ausgetragenen Olympischen Sommerspielen zu einer postmodernen mediterranen Metropole umgestaltet wurde, als Vorbild. Da nun Marseille, die zweitgrößte Stadt Frankreichs und im nationalen Diskurs stets Paris untergeordnet, zwölf Monate lang als europäische Kulturhauptstadt firmieren darf, wurden auch dort die Weichen für ein neues Image gestellt. Für Rotlichtviertel, von Ganoven besiedelte Hafenspelunken und betrunkene Matrosen auf Landgang ist da kaum mehr Platz.

Marathon der Museumseröffnungen.
Bereits Mitte der Neunzigerjahre wurde von der Stadtregierung die Parole von „Marseille Euroméditerranée“ ausgerufen: Ehrgeizige stadtplanerische Maßnahmen wie die Neugestaltung ganzer Viertel und die Ansiedlung von Betrieben aus dem tertiären Sektor sollten die Stadt fit für die Zukunft machen und ihre angestrebte Führungsrolle in dem auf der Barcelona-Konferenz von 1995 definierten „euro-mediterranen Raum“ unterstreichen. Die Zuerkennung des Kulturhauptstadtstatus dürfte da als willkommener Katalysator mit Beschleunigungseffekt gedient haben. Bei einer Pressekonferenz im vergangenen Dezember lud die französische Kulturministerin Aurélie Filippetti konsequenterweise dazu ein, den Blick in die Zukunft zu richten: „Dieses Kulturhauptstadtjahr markiert einen Anfangspunkt vielmehr als den Abschluss vergangener Anstrengungen.“ Auf die Zeit nach 2013, so Filippetti weiter, dürfe keinesfalls vergessen werden.

Fürs Erste können sich jedoch alle Einheimischen und die in großer Zahl erwarteten Marseille-Besucher auf ein umfangreiches Programm freuen. Die Eröffnungsfeierlichkeiten finden am 12. und 13. Jänner statt, danach erwartet eine Vielzahl kultureller Höhepunkte das Publikum. Bemerkenswert ist etwa, dass gleich drei neue Museen in den kommenden Monaten eröffnet werden sollen: Neben dem „Musée d’histoire de Marseille“ (Anfang Juni) und dem „Musée Regards de Provence“ (Februar) wird auch das „Musée des Civilisations d’Europe et de Méditerranée/Mucem“ seine Pforten öffnen – genau zu Frühlingsanfang.
Schon jetzt wird mit Trommelwirbel die Eröffnung des Mucem angekündigt; der designierte Direktor hebt die Bedeutung dieses ersten ausschließlich den Kulturen des Mittelmeerraumes gewidmeten Museums hervor. Nicht nur in diesem Sinne ist übrigens die Lage des Neubaus emblematisch: Er entsteht nämlich direkt neben der Einfahrt zum alten Hafenbecken des Vieux Port, vor der Festungsanlage des Fort Saint-Jean. Eine so prominente und symbolträchtige Waterfront-Umwidmung mit kulturellem Aufwertungseffekt wurde nicht einmal in Barcelona bewerkstelligt (dort ging es ja aber auch um Sport).

Hoffnung Hafenstadt. Wenngleich nun also im Vorfeld der Kulturhauptstadtfeierlichkeiten alle Vorzeichen auf Modernität und Imagewandel stehen, halten – wenigstens in literarischen Gefilden – einige prominente Verfasser von Kriminalliteratur einem dunkleren Hafenstadtbild die Treue.
Ohnehin hat Marseille eine lange Geschichte als prominentes Romansetting vorzuweisen: So war etwa Alexandre Dumas’ Graf von Monte Cristo in dem Château d’If vor Marseille inhaftiert, und im 20. Jahrhundert setzte Marcel Pagnol mit seinen Dramen um das junge Liebespaar Fanny und Marius der südfranzösischen Großstadt ein populärliterarisches Denkmal. Eine wichtige Rolle spielte Marseille auch in Werken deutschsprachiger Autoren, die die Schicksale von Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nachzeichnen. Sowohl in Lion Feuchtwangers „Der Teufel in Frankreich“ als auch in Erich Maria Remarques „Die Nacht von Lissabon“ und „Transit“ von Anna Seghers spielt der Hafen eine wichtige Rolle. 

Einem weniger literaturaffinen Publikum dürfte die Stadt, jetzt endgültig als das „Chicago von Frankreich“, durch Filme wie „French Connection“ oder „Borsalino“ in den Siebzigerjahren zum Begriff geworden sein. Die heruntergekommenen Straßenzüge um den Vieux Port oder die Flaniermeile der Canebière werden da zur Spielwiese von fiktionalisierten Vorgängen, in denen der  sprichwörtlich gewordene schlechte Ruf der Stadt gründet („Marseille ou La mauvaise réputation“ ist sogar der Titel einer ausgezeichneten Mentalitätengeschichte für Marseille von Olivier Boura).
Zusätzlich zu den klischeehaften Vorstellungen von einem hafenstädtischen Lotterleben wird Marseille in den Achtzigerjahren auf einmal zum Symbol für die französische Immigrationsproblematik: Die von einem hohen Ausländeranteil charakterisierte Bevölkerung der „Quartiers Nord“ von Marseille wird zum Pulverfass und damit von einigen Agitatoren als Problemfall dargestellt. Genau für diese Viertel interessieren sich jedoch die Vertreter einer dezidiert Marseille verhafteten Fraktion der Verfasser von sogenannten „Néo-Polars“: Krimis, die der US-amerikanischen Tradition nach Raymond Chandler oder Dashiel Hammett folgen und dabei ausdrücklich auf soziale Missstände hinweisen.

Kulinarische Krimis.  Wie kein anderer Autor prägte Jean-Claude Izzo mit seiner „Trilogie marseillaise“ um den ermittelnden Protagonisten Fabio Montale das kriminalliterarische Marseille-Bild. In seinen Büchern (auf Deutsch im Unionsverlag) wird die Stadt als ein harter Kosmos gezeichnet – mit Fortschreiten der Trilogie werden die Handlungsstränge immer blutrünstiger, und Marseille wird in den Kontext des internationalen, organisierten Verbrechens gerückt. Zugleich – wie es sich für mediterrane Krimis, siehe etwa Veit Heinichen, Donna Leon oder Andrea Camilleri, geziemt – spielt ein umfassender Kulinarik-Diskurs (Fabio Montale ist, wie man das wohl nennt, ein beherzter „Foodie“) eine wichtige Rolle und sorgt für Wonneschauder inmitten schauriger Missetaten.

In Izzos Gefolge wurden auch andere Verfasser sogenannter „polars marseillais“ erfolgreich; zu nennen sind hier etwa Serge Scotto, Jean-Paul Delfino oder Annie Barrière. Unlängst tat sich Olivier Descosse (auf Deutsch bei Blanvalet) als möglicher Nachfolger des im Jahr 2000 verstorbenen Jean-Claude Izzo hervor: Seine Bücher, in denen oft der Polizist Paul Cabrera als Protagonist auftritt, warten mit noch aufsehenerregenderen Gewaltverbrechen auf und verzichten dafür auf die romantisierenden Anwandlungen des Multikulturalitätsadepten Izzo. Auf die Vermischung zweier literarischer Erfolgsgenres setzt indes Jean Contrucci, der mit seinen „Nouveaux mystères de Marseille“ eine Reihe von historisierenden Kriminalromanen vorlegte. Diese sind zwar noch nicht ins Deutsche übertragen, jedoch mag das Kulturhauptstadtjahr ja neuen Übersetzungseifer im deutschsprachigen Buchmarkt bedingen. Für eine erste kriminalliterarische Tuchfühlung mit Marseille und ausreichend Lektüre während eines Kurzbesuchs der Kulturhauptstadt ist aber auch dank Contruccis Kollegen Izzo und Delfino gesorgt.

TIPP

Marseille – Provence 2013 ist die offizielle Bezeichnung für das Kulturhauptstadtprogramm. Details findet man auf www.mp2013.fr

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