Analyse: Die Arbeiterbewegung - und mit ihr die Sozialdemokratie - hat ihre historischen Forderungen erreicht. Heute sind die Arbeiter politisch führungslos.
Wien. Die organisierte Arbeiterbewegung hat das Ende der Fahnenstange erreicht. Um es in den Worten des Historikers und Generaldirektors des Österreichischen Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner, zu sagen: Die Forderungen der Sozialdemokratie für die Arbeiter sind erfüllt. Der Acht-Stunden-Tag im engeren Sinn, der ausgebaute Sozialstaat im weiteren Sinn.
Daher erscheint es durchaus bemerkenswert, dass sich die SPÖ am Montag wieder als die „Partei der Arbeit" präsentiert hat (siehe Bericht). Fast klingt das so, als ob die SPÖ verstaubte Vokabel wie Klassenkampf und Arbeiterbewegung heraufbeschwört. Dabei ist es genau diese Partei, die in den vergangenen Jahrzehnten die Arbeiterklasse Österreichs erfolgreich in den Mittelstand gehievt hat - und sich dort seitdem breitgemacht hat. Das Image einer Arbeiterpartei hält die SPÖ nur noch am 1. Mai hoch.
Dabei steigt die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten sukzessive (analog zum Anstieg der Bevölkerung insgesamt). 2004 waren etwas über eine Million Arbeiter beschäftigt (knapp 1,7 Mio. Angestellte), 2011 waren es knapp 50.000 mehr (1,8 Mio. Angestellte). Und sie sind heute politisch führungsloser denn je. Warum?
In den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Sozialstaat geformt wurde, fand auch ein Prozess der Individualisierung statt, sagt Manfred Krenn von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (Forba). Die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv war nicht mehr notwendig, stattdessen hat der Staat Sicherheiten garantiert. Zeitgleich hat eine Entpolitisierung der arbeitenden Bevölkerung stattgefunden. Die Gewerkschaften haben ihre Interessen vertreten, frei nach dem Motto „Ihr braucht euch nicht zu kümmern".
Was aber noch schwerer ins Gewicht fällt, ist die Veränderung der ehemals durchaus homogenen Arbeitswelt: Zwischen den Jahren 2000 und 2007 hat die Teilzeitbeschäftigung um 48 Prozent zugenommen, die Zahl der Leiharbeitskräfte um 122 Prozent, jene der neuen Selbstständigen um 80 Prozent.
Schichtarbeiter und Grafiker
Prekäre Arbeitsverhältnisse betreffen heute nicht mehr nur die soziale Unterschicht, sondern auch den gebildeten Mittelstand. Und: Laut dem Sozialbericht (2011- 2012) sind zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung trotz Erwerbseinkommens armutsgefährdet - das Phänomen der „Working Poor". Zudem hat einer umfassenden Studie aus dem Jahr 2008 zufolge ein Viertel der Hilfsarbeiter Migrationshintergrund. Genau auf diese Veränderungen hat bisher kaum eine Organisation umfassend reagiert.
Weder Gewerkschaften noch SPÖ noch eine andere Partei - noch die betroffenen Gruppen selbst. Die Bildungsdebatte zeigt das wohl am besten auf: Heute wie auch schon vor Jahrzehnten ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein Arbeiterkind eine höhere Schule besucht.
Damit die arbeitende Bevölkerung (wieder) ihre eigenen Interessen breitenwirksam vertreten kann, brauchte sie in erster Linie ein Bewusstsein dafür, dass sie der arbeitenden Bevölkerung angehört. Und das hat sie durchaus - zwar nicht im klassisch Marx'schen Sinne einer Zugehörigkeit zu einer homogenen, breiten Klasse, aber einer Zugehörigkeit zu „denen da unten". Es ist das Bewusstsein, dass man sich in einer prekären Arbeitssituation befindet, sagt Maderthaner. Das mag für den Schichtarbeiter genauso gelten wie für den selbstständigen Grafikdesigner. Berührungspunkte haben diese beiden wohl keine, aber die Berührungspunkte gibt es sehr wohl in denselben sozialen Schichten. Hier gebe es durchaus ein „Wir" und ein „Die da oben", sagt der Soziologe Krenn.
Ein Beispiel: Kürzlich wurde die Initiative „Arbeiterkind" ins Leben gerufen. Sozial benachteiligte Kinder erhalten Mentoren, die sie in Schul- und Uni-Fragen beraten. Bei der Vorstellungsrunde der Mentoren war auffällig: Nahezu jeder sagte über sich: „Ich bin selbst ein Arbeiterkind."
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30. April 2013)