Van der Bellen: EU kann Flüchtlingskrise "nicht auf Dauer zuschauen"

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Noch sei die "Situation nicht akut alarmierend", doch müsse die Europäische Union noch heuer Schritte setzen, mahnt der Bundespräsident. Es müsse Geld in die Hand genommen und Verhandlungen aufgenommen werden.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprach mit der „Presse“ und den VN über die aktuelle Flüchtlingskrise, die finanzielle Situation der österreichischen Universitäten, den anstehenden Wahlkampf und warum bei den Grünen Reformen nötig gewesen wären.

Sie haben in Ihrer Eröffnungsrede bei den Bregenzer Festspielen Bezug auf „Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ genommen. Wie solidarisch sind wir derzeit mit den Ländern an der EU-Außengrenze, speziell mit Italien?

Van der Bellen: Österreich hat bereits einen großen Beitrag geleistet. Italien gerät aber zunehmend unter Druck. Die Situation ist zwar noch nicht akut alarmierend, aber die Union wird nicht auf Dauer zuschauen können. Das heißt, wir müssen Geld in die Hand nehmen, uns um die Situation in Libyen kümmern und mit den Regierungen in den afrikanischen Ländern verhandeln.

Was macht Sie optimistisch, dass das alles tatsächlich passiert. Bisher wurden die meisten Länder alleine gelassen.

Versäumnisse der Vergangenheit können ja nicht bedeuteten, dass man sie in alle Zukunft fortschreibt. Italien wird schon entsprechend Druck machen. Die EU-Kommission, der Rat und das EU-Parlament müssen noch heuer Schritte setzen.

In Österreich scheint die Flüchtlingsdebatte der Wahlkampfrhetorik zu verfallen. Bei ÖVP, SPÖ und FPÖ sind kaum mehr Unterschiede festzustellen.

Wahlkampfrhetorik ist immer Wahlkampfrhetorik. Es ist ja nicht von Haus aus etwas Schlechtes, wenn es ähnliche Positionen von Bundeskanzler und Außenminister gibt.

Es ist aber nicht immer Ihre Position.

Man muss zwischen der Schlagzeile und dem Inhalt, der hinter der Schlagzeile steht, unterscheiden. Wenn man unter der Schließung der Mittelmeerroute versteht, dass alles getan werden muss, damit weniger Leute durch Libyen marschieren, Gefahren auf sich nehmen, um dann an der Küste zu landen, um sich auf ein Boot zu setzen, weil sie in ihren Heimatländern bleiben können, dann ist meine Position damit durchaus kompatibel. Wenn hinter der Schlagzeile eine pseudomilitärische Lösung steht, mit der versucht wird, das Meer zwischen Libyen und der sizilianischen Küste gänzlich zu sperren, halte ich das für illusorisch.

Derzeit beunruhigt die EU-Kommission auch die Situation in Polen. Justizkommissarin Vera Jourova meinte, Polen würde sich zu einer Art Diktatur entwickeln. Würden Sie das auch so formulieren?

Diese Terminologie würde ich nicht verwenden. Richtig ist, dass die geplante Justizreform nicht mit rechtstaatlichen Prinzipien vereinbar ist. Der beste Beweis dafür ist, dass auch Staatspräsident Andrzej Duda die Reform nicht unterschreiben möchte. Wenn sogar er ernsthafte Bedenken hat, wie groß müssen dann erst die Bedenken in der Union sein.

Ist es berechtigt, dass die Kommission darüber nachdenkt, Polen das Stimmrecht zu entziehen?

Noch sind wir nicht so weit. Ich sehe dem mit Spannung entgegen, ob alle Visegrád-Staaten zustimmen werden.

Kommen wir zur Innenpolitik: Vor einigen Wochen mahnten Sie die Regierung, Maßnahmen im Bildungs-, Forschungs- und Universitätsbereich zu setzen. Sind Sie heute zufrieden?

Es ist nicht nur im Bereich der Bildung, der Universitäten und der Grundlagenforschung etwas passiert. Auch die Liberalisierung der Gewerbeordnung, die Ökostromnovelle oder die Abschaffung des Pflegeregresses ist beschlossen worden. Und in allen Fällen hat es zunächst danach ausgeschaut, als käme kein Kompromiss zustande.

Ein Kompromiss, der nicht klar gegenfinanziert ist und um den sich die nächste Regierung kümmern muss, könnte zum Papierkompromiss werden.

Zumindest was den Bereich der Forschungs- und Universitätsfinanzierung betrifft, bin ich nicht Ihrer Ansicht. Da bin ich bereit, mehr Risiko einzugehen. Die Bekenntnisse, dass wir zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Universitäts- und Forschungsbereich zur Verfügung stellen müssen, reichen sehr lange zurück. Und wo sind wir? Bei zwei Prozent? Eben nicht, auch nicht mit der nun beschlossenen Erhöhung.

Aber es wurde mehr.

Die ETH Zürich erhält für ihre Studenten pro Kopf mindestens vier Mal so viel, wie die TU Wien. So gesehen ist es erstaunlich, was österreichische Universitäten leisten. Wir dürfen aber nicht immer Weltklasse verlangen, gleichzeitig jedoch keine Konsequenzen daraus ziehen.

Die Studienplatzfinanzierung, inklusive Zugangsbeschränkung, war nicht Teil des Beschlusses zum Uni-Budget. Muss das noch kommen?

Wie dieses Geld verteilt wird, auf wen und nach welchen Kriterien, muss die nächste Regierung klären. Das höhere Budget wird nicht reichen.
Nun stehen wir mitten im Wahlkampf.

Steuert dieser auf eine Härte zu, die neu ist?

Wahlkämpfe waren schon immer hart. In den 50er Jahren hat die SPÖ der ÖVP Rentenklau vorgeworfen. Die ÖVP hat plakatiert: „SPÖ gleich Moskau“.

Jetzt wurde der Wahlkampf aber persönlicher.

Die letzten Wahlkämpfe in Europa haben gezeigt, dass Personen immer mehr im Vordergrund stehen. Die traditionelle Parteizugehörigkeit verschwindet, verblasst, erodiert. Die Person wird vielleicht wichtiger als die Inhalte. Und je wichtiger die Person, desto größer die Versuchung, die Person anzugreifen und nicht die Sache, die sie vertritt.

Als Bundespräsident sind Sie überparteilich. Tun Ihnen die Vorgänge bei den Grünen trotzdem weh?

Ja. Bevor ich als Parteivorsitzender zurückgetreten bin, haben wir uns bemüht, die Parteistrukturen mit Experten zu überarbeiten. Das ist mit meinem Rücktritt leider eingeschlafen. Die Entscheidungen des Bundeskongresses waren immer unvorhersehbar. Das haben manche über 30 Jahre lang toleriert, manche sogar für richtig gehalten. Ich habe immer Reformen eingemahnt. Da nichts geschehen ist, kommen überraschende Entscheidungen zustande, bei denen viele im Nachhinein sagen: Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich anders abgestimmt.

Späte Einsicht.

Ja.

Das Gespräch führten Presse-Chefredakteur Rainer Nowak sowie Gerold Riedmann und Birgit Entner von den Vorarlberger Nachrichten.

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