Der ÖGB rief zur Demo – und Regierungsgegner aller Schattierungen kamen. Offiziell ging es um den Zwölf-Stunden-Tag, für viele jedoch um mehr: den Sturz von Türkis-Blau.
Warum kleckern, wenn man klotzen auch kann? „Kurz und Strache: Diktatur pur“ steht auf einem Schild. „Arbeiter als neue Sklaven“ auf einem anderen. Und einer hat sich „Der größte Kahlschlag seit den 30er-Jahren“ auf sein T-Shirt drucken lassen. Die Musikauswahl dazu ist vergleichsweise moderat: „Why“ von Michael Jackson und „Egoist“ von Falco dröhnt aus den Lautsprechern am Christian-Broda-Platz beim Wiener Westbahnhof.
Aber es gibt auch bei den Demonstranten besonnenere Töne. „Es geht gar nicht so sehr um den Zwölf-Stunden-Tag. Es geht um die Art und Weise“, sagt Birgit Strasser, sie ist aus Kärnten angereist und dort Betriebsratsvorsitzende des BFI. Sie arbeite selbst auch zwölf Stunden oder mehr, bei Infineon gebe es 40 verschiedene Arbeitszeitmodelle, aber die Regierung wolle einfach drüberfahren, sich die Überstundenzuschläge ersparen und die Sozialpartnerschaft aushebeln. „Und das erschreckt mich.“
Der Wirtschaft und der Industrie wolle man „Tür und Tor“ öffnen – so sieht das auch ein pensionierter Bawag-Mitarbeiter, der die Demo vom Rand aus mitverfolgt. Außerdem sei er, der den Eisernen Vorhang erlebt habe, gegen geschlossene Grenzen, fügt er noch hinzu. Das ist überhaupt ein weitverbreitetes Motiv auf dieser Demonstration: Die Regierung habe mit der Migration ein Thema gefunden und bausche das nun auf, um vom Sozialabbau abzulenken.
"Wer holt dann die Kinder ab?"
Der aus Jordanien stammende Hausdetektiv vom C&A, der vor dem Geschäft die Demo mitverfolgt, sieht das hingegen anders: Österreich solle bei den Flüchtlingen restriktiver sein, man habe eh schon so viele aufgenommen. „Und so viel Geld hat die Stadt Wien dann auch nicht.“ Kanzler Kurz solle dafür sorgen, dass die Flüchtlinge gemeinnützige Arbeit leisten – damit diese nicht auf blöde Ideen kämen. Die Demo begrüßt er allerdings: „Ich finde das gut. Wenn alle zwölf Stunden arbeiten – wer holt dann die Kinder ab?“
Knapp nach 14 Uhr setzt sich der Demo-Zug in der Mariahilfer Straße in Bewegung. Vorne weg marschieren Gewerkschaftsfunktionäre wie Rainer Wimmer, Chef der Teilgewerkschaft PRO-GE, Bau-Holz-Gewerkschafter Josef Muchitsch, ÖBB-Betriebsratsvorsitzender Roman Hebenstreit oder Bernhard Achitz, der Leitende Sekretär des ÖGB. Hinter ihnen wird skandiert: „Wir sind hier, wir sind laut – weil ihr uns die Freizeit klaut!“
Opas gegen rechts. Der ÖGB hat gerufen – und es sind erwartungsgemäß nicht nur Gewerkschaftsfunktionäre gekommen. Sondern Regierungsgegner aller Schattierungen, die radikaleren à la Linkswende oder Funke hat man weiter nach hinten verlagert. Die Grünen auch. Die Omas gegen rechts sind da, Opas gibt es mittlerweile auch. Am Straßenrand singt eine Gruppe Alt-Achtundsechziger zu Gitarrenbegleitung: „Wehrt euch, leistet Widerstand – gegen den Sozialabbau in diesem Land“. Auch namhafte Journalisten marschieren mit.
Offiziell geht es um den Zwölf-Stunden-Tag, genau genommen jedoch um ein imposantes Zeichen gegen die Regierung. Alle gegen eine. Der Vorsitzende der Postgewerkschaft, Helmut Köstinger, ruft sogar dazu auf, die Regierung „zu stürzen“. Diese hat dem ÖGB – um in der aktuellen Fußballterminologie zu bleiben – mit dem Zwölf-Stunden-Tag einen Elfmeter aufgelegt. Wobei die Gewerkschaft auch nicht zimperlich zur Sache geht: „Jeden Tag vier Stunden länger arbeiten – da hab ich ka Leben mehr“, steht auf einem der Taferln. Diese Realitätsverzerrung könnte man dann schon auch als Foul sehen.
Auch die SPÖ hat einen Wagen mitgeschickt. Während Klubchef Andreas Schieder von oben herab gegen den „Konzernkanzler“ Kurz wettert und Sandra Frauenberger begrüßt, wird SPÖ-Chef Christian Kern im dunklen T-Shirt unten um Selfies gebeten. Wiens Bürgermeister, Michael Ludwig, und Burgenlands Landeshauptmann, Hans Niessl, sind da schon weitergezogen.
80.000 Demonstranten sind es laut Polizei. Einer der Kern-Sprecher twittert 170.000 bis 200.000. Wie viele es wirklich sind? Jedenfalls mehr als am 1. Mai auf dem Rathausplatz.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2018)