„Ich war in meinem Leben nie neutral“

Helga Rabl-Stadler mit „Presse“-Redakteurin Judith Hecht im Hotel Sacher: „Der Kompromiss ist das beste Fundament für die Demokratie. Es macht mir Sorge, dass jede Diskussion als Streit vernadert wird.“
Helga Rabl-Stadler mit „Presse“-Redakteurin Judith Hecht im Hotel Sacher: „Der Kompromiss ist das beste Fundament für die Demokratie. Es macht mir Sorge, dass jede Diskussion als Streit vernadert wird.“(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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1955 sei für ihre Familie das Jahr der Befreiung gewesen, die Angst vor einem neuen Krieg dennoch immer präsent, sagt die Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler. Die Österreicherin des Jahres erinnert sich.

Die Presse: Der 26. Oktober ist ein Feiertag. Das wissen viele. Aber wissen die meisten Österreicher auch, was an diesem Tag gefeiert wird?

Helga Rabl-Stadler: Das glaube ich nicht. Überhaupt von der heutigen Generation weiß das niemand. Das Problem aller freien Tage – nicht nur des Nationalfeiertags – ist doch, dass man nichts mehr mit ihnen assoziiert außer einen freien Tag. Das gilt für den Pfingstmontag genauso wie für den 8. Dezember. Ich finde hingegen, dass wir diese Tage nützen sollten, um über ihre Anlässe zu reden.

Wie haben Sie diesen Tag als Jugendliche erlebt?

Sehr bewusst. Ich bin Jahrgang 1948. Als der Staatsvertrag geschlossen wurde, war ich sieben Jahre alt. Ich bin in Salzburg aufgewachsen. Die Stadt gehörte zur amerikanischen Besatzungszone. Und die Grenze zur russischen war die Enns. Und nachdem es von den Russen hieß, dass sie dort immer wieder Leute herausfangen, sind wir bis 1955 nur ein einziges Mal nach Wien gefahren. Öfter war ich mit meinen Eltern in München. Dieses Jahr haben meine Eltern deshalb sehr bewusst als Befreiung Österreichs erlebt.

Nahm der Staatsvertrag Ihren Eltern auch die Angst, es könne wieder zu einem großen Krieg kommen?

Nein, die Kriegsangst war bei uns zu Hause sehr präsent. Mein Großvater, Heinrich Resmann, hat zwei Weltkriege erlebt, mein Stiefvater einen. Ich kann mich noch erinnern, dass wir 1962 angesichts der Kuba-Krise mit großer Sorge vor dem Radio gesessen sind und Angst gehabt haben, es könnte wieder ein Weltkrieg ausbrechen.

Die Tatsache, dass sich Österreich per Verfassungsgesetz zu „immerwährenden Neutralität“ bekannte, war keine Beruhigung?

Nein, das war allenfalls eine Beruhigungspille. Alle waren sich dessen bewusst, dass ein kleines Land wie Österreich inmitten Europas immer dem Wohlwollen seiner Nachbarn ausgesetzt ist. Mein Großvater, ein sehr politischer Mensch, war deshalb ein großer Anhänger der Ideen von Richard Coudenhove-Kalergi von einem vereinten Europa. Er war davon überzeugt, dass dieser Europagedanke uns vor einem neuerlichen Krieg bewahren könnte. Und die Entwicklung bis zum heutigen Tag gab ihm recht.

Zurück zu Ihnen: Wie wurde der 26. Oktober in Ihrer Schule begangen?

Dort feierten wir ab 1956 immer den „Tag der Fahne“.

Erst 1965 wurde der „Tag der Fahne“ in den Nationalfeiertag umgewandelt.

Und selbstverständlich hat aus diesem Anlass die Helga Stadler vor 16 Klassen im Turnsaal der Schule eine Rede gehalten. Ich fand wohl, dass dieser Tag nicht mehr „Tag der Fahne“ heißen sollte. Wir Österreicher haben doch zu unserer Flagge nicht so eine Beziehung wie etwa die Amerikaner.

Wissen Sie noch, was Sie damals gesagt haben?

Ja, ich habe die Rede unlängst in meinem Tagebuch nachgelesen. Heute würde man sagen, dass ich eine sehr pathetische Rede gehalten habe: „Auch wir können und müssen unseren Beitrag zum europäischen Frieden leisten, indem wir zuerst für Ruhe und Übereinstimmung im eigenen Land sorgen. Lernen wir aus den Fehlern der Vergangenheit.“

Ungewöhnlich für eine 17-Jährige.

Ja, die Verantwortung für das Land war immer in mir und ist es heute noch. Ich überlege mir nie, was mein Land für uns tun könnte. Vielmehr will ich, dass es dem Land, in dem ich lebe, gut geht, dass es keine zu großen Klüfte zwischen den Menschen gibt. Mich bekümmert es sehr, dass eine Informationsblase im Internet dazu beiträgt, die Gräben zwischen uns immer größer werden zu lassen. Es gibt heute viel zu wenig Diskussion.

War das früher anders?

Mir war sie jedenfalls schon als Kind wahnsinnig wichtig. Ich habe meine Eltern genervt, weil ich so viele Fragen gestellt habe, aber ich wollte alle und alles verstehen. Heute wird leider jede Diskussion – auch von den Medien – gleich als Streiterei oder Schwäche diffamiert. Dabei ist es doch selbstverständlich, dass Politiker Konflikte austragen müssen. Weshalb werden sie sofort als Streit vernadert und nicht als notwendige Diskussion akzeptiert? Warum wird jeder Kompromiss als faul bezeichnet und als Niederlage gesehen? Das macht mir Sorgen. Für mich ist ein hart erarbeiteter Kompromiss das beste Fundament für die Demokratie.

Gilt das immer?

Da kann ich nur Erhard Busek zitieren, der gesagt hat: „In Österreich läuft man Gefahr, dass man den Kompromiss schon vor dem Konflikt sieht.“ Man will sich also den Diskurs ersparen, weil man sich lieber gleich arrangiert. Das ist der falsche Weg, weil der wichtigste Teil – die Auseinandersetzung – ausgelassen wird. Aber nach einer Diskussion muss es immer einen Kompromiss geben. Es ist nie nur ein Standpunkt richtig. Überhaupt bin ich ein Mensch, der eine Meinung erst im kontroversiellen Gespräch entwickeln kann. Diskussionen sind keine unverdiente Last des Schicksals, sondern das Tollste, was wir als Menschen haben und was uns von Tieren unterscheidet.

Wann haben Sie sich das erste Mal mit dem Begriff Nation auseinandergesetzt?

Offengestanden erst, als ich Präsidentin der Salzburger Festspiele geworden bin. Davor habe ich nicht darüber nachgedacht. Ich bin in einem österreichischen Haushalt aufgewachsen. Bei uns gab es weder Deutschtümelei noch große Überlegungen, ob wir eine Nation sind oder nicht. Aber meine Eltern vermittelten uns, dass es ein Glück ist, dass Österreich trotz seiner Kleinheit einen Standort in dieser Welt gefunden hat. Es war für mich also selbstverständlich, dass wir Österreich und nicht Deutschland sind.

Und was passierte, als Sie Präsidentin der Salzburger Festspiele wurden?

Da habe ich mich mit der Geschichte der Festspiele befasst. Die Idee dazu hatte Max Reinhardt mitten im Ersten Weltkrieg. 1917, drei Wochen nachdem die USA entschieden hatten, dem Krieg beizutreten, schrieb er an den Kaiser einen Brief. In der düstersten Zeit schlug er vor, in Salzburg Festspiele als erstes Friedenswerk nach dem Krieg zu gründen. Die Menschen sollten über die Kunst zueinanderfinden. Ist das nicht wunderbar! Aber nach dem Ersten Weltkrieg, was war Österreich denn dann?

Was war es?

Wie der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau ohne jeglichen französischen Charme sagte: „Österreich ist das, was übrig bleibt.“ Das zeigt für mich die ganze Orientierungslosigkeit dieser Zeit auf. Das ganze Volk, aber auch jeder Einzelne, wusste nicht, was es/er allein sein soll. Es war noch ein Glück, dass sich die Vertreter des Parlaments auf die Bezeichnung „Deutsch-Österreich“ einigen konnten. Es standen ja auch Namen wie „Deutsche Alpenlande“ oder „Südostdeutschland“ – beides Vorschläge von Staatskanzler Karl Renner – „Treumark“ oder „Donau-Germanien“ zur Auswahl. Erst die alliierten Siegermächte beendeten die hochfliegenden Pläne der Vereinigung aller Volksdeutschen aus den Gebieten rund um Kernösterreich. Sie legten dem neuen Staat ein Anschlussverbot auf und gaben ihm seinen heutigen Namen: Republik Österreich. Aber vielen hat dennoch die Zuversicht gefehlt, dass wir ohne Deutschland überleben können. Auch das hat es Adolf Hitler so leicht gemacht, vielen Österreichern vorzugaukeln, er könne die verloren gegangene Größe wiederherstellen. Die Festspielidee war aber auch in dieser schwierigen Zeit nicht mehr umzubringen.

Warum?

Weil sie so notwendig war. Ich zitiere Hugo von Hofmannsthal: „Die Festspiele sind nicht das Projekt einiger träumerischer Fantasten und nicht die Angelegenheit einer kleinen Provinzstadt. Sie sind eine Angelegenheit der europäischen Kultur mit künstlerischen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.“ Diesem Glauben an die Kraft der Kunst verdanken die Salzburger Festspiele ihre Existenz, aber ich glaube, Österreich auch.

Welche Eigenschaft ist für Sie typisch österreichisch?

Mich hat das Buch „Der österreichische Mensch“ des amerikanischen Historikers William M. Johnson sehr beeindruckt. Er spricht vom Sozialkapital des österreichischen Menschen. Er spricht von jenem Beamten der österreichisch-ungarischen Monarchie, der erzogen war, „zwischen den Klassen, den Regionen und den Nationalitäten zu vermitteln“. Und er beklagt, dass dieses Potenzial mit dem Untergang der Habsburger-Monarchie verloren ging. Ich stimme ihm zu, wir Österreicher haben dieses Talent, das wir wieder mehr nützen sollten. In diesem Sinn sehe ich mich als sehr österreichisch. Die Worte der Philosophin Hannah Arendt, dass die geistige Heimat „das Reich der Humanitas ist, zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung“, finde ich wunderbar.

Der Österreicher habe die Fähigkeit zu vermitteln, sagten Sie. Neutral zu sein, ist das für Sie positiv besetzt?

Das ist aber eine gemeine Frage. Ich war in meinem beruflichen und persönlichen Leben nie neutral. Ich will Stellung beziehen. Schon an meinem Gesichtsausdruck bemerkt man, was ich denke. In der Politik ist das etwas anders. Ich wäre sehr dafür gewesen, die Neutralität auf hohem Niveau zu diskutieren, wie das Wolfgang Schüssel einmal versucht hat. Es wäre gut, sich zu fragen, woraus sie entstanden ist und ob sie heute noch ihre Berechtigung hat. Aber als Präsidentin der Festspiele bin ich politisch immer neutral. Ich muss mit allen auskommen.

ZUR PERSON

Helga Rabl-Stadler ist seit 1995 Präsidentin der Salzburger Festspiele. Ihr Vertrag wurde mehrfach verlängert und läuft bis 2020. Die Tochter des ehemaligen ORF-Generalintendanten Gerd Bacher studierte Rechtswissenschaften. Sie arbeitete als Journalistin, war für die ÖVP Abgeordnete zum Nationalrat und bis 2008 Miteigentümerin des Modehauses Resmann in Salzburg. Bei der Austria- Gala 2018 wurde Rabl-Stadler Österreicherin des Jahres in der Kategorie Kulturerbe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2018)

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