Wien will türkis-blaue Pläne zur Mindestsicherung so nicht umsetzen

Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) und die designierte Grünen-Spitzenkandidatin Birgit Hebein
Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) und die designierte Grünen-Spitzenkandidatin Birgit Hebein APA/GEORG HOCHMUTH
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SPÖ-Sozialstadtrat Hacker und die grüne Sozialsprecherin Hebein nennen den Reformentwurf einen "echten Wahnwitz" und überlegen den Gang vor Gericht. Die Gesundheitsministerin erwägt ebenfalls eine Klage, der Bundeskanzler zeichnet ein düsteres Bild.

Wien wird den vorliegenden Regierungsentwurf zur Reform der Mindestsicherung - falls er in dieser Form kommt - nicht umsetzen. Das sei nämlich gar nicht möglich, sagten der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) und die designierte Grünen-Spitzenkandidatin Birgit Hebein am Donnerstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz. Zum einen verliere das unterste soziale Netz die Aufgabe der Existenzsicherung. Zugleich würden mit der Regelung aber etwa fremdenpolizeiliche und arbeitsmarktpolitische Aufgaben den Ländern "untergejubelt" - obwohl der Bund dafür zuständig sei, so die Argumentation.

Er habe schon im Vorfeld Bedenken gehabt, "beim detaillierten Durchlesen ist es nicht besser geworden", meinte Hacker einleitend. Seiner Meinung nach sei das geplante Gesetz ein "echter Wahnwitz". Denn, "es ist nicht in der Lage, eine bundesweite Vereinheitlichung zu erreichen". Auch würden sich eine Reihe von Bestimmungen widersprechen. Hacker wunderte sich etwa über den laut seinen Angaben verwendeten Begriff "anrechenfreie Freibeträge". Weiters fehlt ihm eine klare Festlegung, ob Mindestsicherungsempfänger sozialversichert sind oder nicht. Die Tatsache, dass zwar Höchstbeträge, aber keine Mindestbeträge im Gesetz enthalten sind, lasse zudem die theoretische Möglichkeit offen, die Sozialhilfe auf null zu senken.

Gang vor Gericht nicht ausgeschlossen

Hacker rechnet außerdem mit einem "enormen Verwaltungsaufwand". Aus dem Entwurf schreie der "Bürokratiehengst" entgegen. Die Verfahrensdauer werde sich erhöhen - genauso wie der finanzielle Aufwand, prophezeite er. Erste Schätzungen habe man im Rathaus bereits vorgenommen: "Nach einigen Dutzend Millionen Euro Mehraufwand haben wir aufgehört zu rechnen." Ebenfalls mühsam zu bewerkstelligen ist nach Ansicht des Sozialdemokraten die Zuteilung von Sachleistungen. Verfassungs- und europarechtliche Bedenken machte Hacker ebenfalls geltend - und schloss den Gang zum Verfassungsgerichtshof nicht aus.

Hebein, Sozialsprecherin der Grünen, pflichtete Hacker bei. Das Gesetz sei "menschlich Müll", konstatierte sie: "Es ist im Grunde ein Armutsförderungsgesetz." Die Regierung habe offenbar keine Absicht, Armutsbetroffenen zu helfen. Dies gehe zu Lasten von Kranken, Pflegebedürftigen, Familien mit Kindern oder auch Behinderten. Letztere würden auch verlieren, obwohl die Regierung einen "Bonus" vorgesehen habe. Doch dieser sei eine Kannbestimmung, die Streichung des 13. und 14. Bezugs für Dauerleistungsbezieher - wie eben Menschen mit Behinderung - bringe gemeinsam mit anderen Maßnahme des Gesetzes hingegen einen "Doppelmalus".

Hartinger-Klein: "Es wird nicht so heiß gegessen"

Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ) regierte auf die Wiener Kritik am Rande der Regierungsklausur in Mauerbach betont gelassen. Man werde sich jetzt in Ruhe die Begutachtungsstellungnahmen ansehen und eine Regierungsvorlage erarbeiten, meinte sie. "Es wird nichts so heiß gegessen, wie gekocht wird, wir schauen uns das alles in Ruhe an", hielt sie fest. Danach werde die Regierung einen Entwurf vorlegen. Sollte Wien diesen nicht umsetzen, sei eine Verfassungsklage seitens des Bundes denkbar, sagte Hartinger-Klein.

Der Hintergrund: Die Regierung hat Ende November die neuen Regelungen zur Mindestsicherung fixiert und den Gesetzesentwurf in Begutachtung geschickt. Heute endet die Frist zur Abgabe von Stellungnahmen zum Entwurf. Grundsätzlich soll die Novelle eine Vereinheitlichung bei der Mindestsicherung bringen und die Bund-Länder-Vereinbarung über Mindeststandards bei dieser Sozialleistung (sie wird im Entwurf "Sozialhilfe" und nicht wie bisher "Mindestsicherung" genannt) ersetzen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) reagierte mit heftiger Kritik auf die Ankündigung Wiens. Er zeichnete bei der Regierungsklausur in Mauerbach am Donnerstag ein düsteres Bild von der Bundeshauptstadt. Hier würden in vielen Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen, meinte der Regierungschef.

"Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen", so Kurz zur Eröffnung der Regierungsklausur. Er wisse nicht, ob Wien das erreiche, was es wolle, wenn die Kompetenz für die Mindestsicherung zum Bund wandere. In Wien sei die Zahl der Mindestsicherungsbezieher massiv angestiegen, behauptete Kurz (in Wien gab im Jahr 2017 um 1,2 Prozent mehr Mindestsicherungsbezieher als 2016; im August 2018 präsentierte die MA 40 rückläufige Zahlen, Anm.).

Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) erinnerte Wien daran, "dass wir in einem Rechtsstaat leben und die rot-grüne Wiener Stadtregierung wird sich auch an den Rechtsstaat halten müssen. Sonst wandert die Kompetenz vom Land zum Bund. So gesehen stehe ich dem Ganzen gelassen gegenüber", sagte Strache.

Sozialhife neu

Bei der Höhe der monatlichen Sozialhilfe orientiert sich das ÖVP-FPÖ-Modell am Netto-Ausgleichszulagenrichtsatz von derzeit 863 Euro, was den Höchstbetrag für Einzelpersonen darstellt. Für ein Paar gibt es maximal zwei Mal 70 Prozent des Richtsatzes bzw. 1208 Euro. Weitere Eckpunkte der türkis-blauen Pläne: Für Familien mit Kindern bringt die Novelle Einschnitte. Zwar gibt es keine völlige Deckelung pro Familie, dafür aber eine Staffelung pro Kind. Alleinerzieherinnen und Behinderten können die Länder künftig nach eigenem Ermessen Zuschläge in einem gewissen Rahmen gewähren.

Zuwanderer mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen sollen eine gekürzte Sozialhilfe von 563 Euro erhalten. Für Drittstaatsangehörige sowie EU- und EWR-Bürger ist eine fünfjährige Wartefrist vorgesehen, bevor sie die Sozialhilfe beziehen können. Unionsbürger mit einem kürzeren rechtmäßigen Aufenthalt haben nur dann uneingeschränkten Zugang, wenn sie sich etwa als Arbeitnehmer in Österreich befinden.

In Kraft treten soll das Grundsatzgesetz nach dem für Februar oder März geplanten Nationalrats-Beschluss mit 1. April 2019. Danach haben die Bundesländer (für die die Änderungen Mehrkosten bedeuten) in einer mehrmonatigen Übergangsfrist Zeit, um die entsprechenden Landesgesetze zu erlassen.

(APA/hell/Red.)

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