Brigitte Bierlein: Die erste Frau im Kanzleramt

Die Presse
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Unter der ersten schwarz-blauen Regierung wurde Bierlein zur ersten Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs ernannt, unter Türkis-Blau wurde sie dessen erste Präsidentin. Nun soll sie - wenn auch nur für vorerst kurze Zeit - Österreichs erste Bundeskanzlerin werden.

Die schönsten Karrieren verlaufen ungeplant. Die von Brigitte Bierlein zum Beispiel, der designierten Bundeskanzlerin der kommenden Monate. Bierlein ist die erste Frau in dieser Position in der Geschichte Österreichs. Die bisherige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) hat zwar wenig Erfahrung in der Politik, aber sehr viel damit, bisher nur von Männern gehaltene Positionen zu übernehmen. Wobei ihr das zuweilen mehr passierte, als dass sie es angestrebt hätte. Auch der Ruf ins Kanzleramt durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen kam für sie überraschend, wie Bierlein am Donnerstag selbst bekannte.

Schon ihre Berufsausbildung entsprach nicht Bierleins Plan A. Die gebürtige Wienerin, die in einem knappen Monat ihren 70. Geburtstag feiert und damit noch bis Ende dieses Jahres an der Spitze des Höchstgerichts gestanden wäre, wollte ursprünglich Kunst studieren. Sie begab sich zu diesem Zweck mit ihrer Zeichenmappe unter dem Arm an die Universität für Angewandte Kunst. Dort meinte sie jedoch feststellen zu müssen, dass die Werke anderer Anwärter viel besser waren als die ihren. Also ließ sie die Kunst vorerst bleiben, wenn auch nur als Kunstschaffende. Denn Ausstellungen zu besuchen und Kunst zu sammeln, das hat Bierlein nie aufgegeben.

Beruflich entschied sie sich für das auch materiell sicherere Jus. Keine schlechte Wahl, wie sich herausstellen sollte. Die begeisterte Strafrechtlerin kletterte in der Staatsanwaltschaft die Karriereleiter empor, bis sie – Premiere Nr. 1 – als erste Frau Generalanwältin in der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof wurde. Auch in der Standespolitik, ihrem ersten Berührungspunkt mit der Politik, war Bierlein die Erste: noch nie vor ihr war eine Frau Präsidentin der Staatsanwältevereinigung gewesen.

Am Sonntag, dem 27. Oktober 2002 kam dann die bis dahin wohl überraschendste Wendung in Bierleins Berufsleben, und zwar mit einem Anruf: Ob sie nicht Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs werden wollte, wurde sie auf FPÖ-Initiative gefragt, vier Wochen, bevor die gebeutelte erste schwarz-blaue Koalition sich einer Neuwahl stellte. Sie hatte nur einen Tag Bedenkzeit, denn die Bewerbungsfrist endete schon am Montag. Bierlein sagte zu – und wurde erste Frau stellvertretende Vorsitzende des Höchstgerichts.

Konservativismus als positiver Gegenpol

Im Februar 2018 war es dann Türkis-Blau, das Bierlein zur VfGH-Präsidentin machte: Premiere Nr. 4. Es hätten zwei geruhsame Jahre am Ende einer glänzenden Juristinnenkarriere werden können. Als Präsidentin hatte sie in aller Regel kein Stimmrecht, und fachlich galt die Strafrechtsspezialistin nicht gerade als Schwergewicht. Ideologisch schillert sie fast so bunt, wie sie sich zuweilen kleidet: In der Staatsanwaltschaft sozialisiert, empfindet sie „Law and Order“ nicht als abschreckend. Konservatismus ist für sie ein positiver Gegenpol zu Beliebigkeit. Zugleich ist sie offen gegenüber neuen gesellschaftspolitischen Entwicklungen.

Am Höchstgericht zählte weniger Bierleins juristische Expertise als ihre hohe soziale Kompetenz. Sie gilt als harmoniebedürftig und „konnte“ mit allen Mitgliedern des Höchstgerichts gut. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für die Position an der Spitze der jetzigen Übergangsregierung.

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