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"Talk auf der Alm": Achtung, die Individualisten kommen

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Beim „Talk auf der Alm“ der „Presse“ in Alpbach ging es vergangene Woche um Individualität und Individualisierung – und darum, wie Unternehmen damit umgehen.

Sie wissen genau, was sie wollen. Eine interessante Aufgabe zum Beispiel. Und mindestens genauso gut, was sie nicht wollen. Sich in ihrer Flexibilität einschränken lassen. Die Rede ist von den Individualisten. Sie standen im Zentrum des vierten „Talk auf der Alm“, zu dem „Presse“-Geschäftsführer Herwig Langanger in Alpbach geladen hatte. Erst wurde gewandert, dann diskutierten die rund 60 Gäste auf der Zirmalm das Thema „Individualisierung: Der Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung“.

Diese Individualisten stellen große Unternehmensorganisationen vor enorme Herausforderungen. Sie bringen frischen Wind in die Organisationen, sie sind bereit und in der Lage, neu zu denken und unvoreingenommen zu argumentieren. Doch: „85 Prozent unserer Leute sind Naturwissenschaftler oder Techniker, und sie alle wissen, dass sie eine rare Ressource sind“, sagt Markus Tomaschitz, Vice President HR bei AVL List in Graz. Die Bereitschaft, sich mit dem Unternehmen zu „synchronisieren“, nehme kontinuierlich ab.

Mehr noch, sagt Erich Lehner, Managing Partner von EY Österreich. Aufgrund der konkreten Wünsche der Mitarbeiter gebe es allein in seinem Unternehmen „32 verschiedene Arbeitszeitmodelle“.

War es früher Usus, dass eine künftige Führungskraft ein Jahr Auslandserfahrung sammelt, ist dieses Dogma längst aufgehoben. Heute müsse man froh sein, dass jemand überhaupt eine leitende Funktion annimmt. „Die Führungsrolle ist unattraktiv geworden“, sagt Tomaschitz. Viele Mitarbeiter seien „zufrieden mit dem, was sie machen.“

Birgit Feldhusen, Lehrgangsleiterin am Departement für Wirtschafts- und Managementwissenschaften der Donau-Universität Krems, unterscheidet zwischen „Individualität“ und „Individualisierung“. Ersteres bedeute, dass „das Ich immer Vorrang hat“. Und das führt in einem Unternehmen schnell zu Problemen. Vor allem, wenn das Vorrang-Ich ganz oben in der Hierarchie zu finden ist.

Leitplanken statt Kontrolle

Individualisierung hingegen bedeute, dass der einzelne Mitarbeiter mit mehr Verantwortung und Eigenständigkeit ausgestattet wird, sagt die Wissenschaftlerin. Um dies in einem Unternehmen zu bewerkstelligen, müssen aus „Unterordnungshierarchien“ „Kompetenzhierarchien“ werden. Mitarbeiter werden nicht „kontrolliert“, sondern es werden „Leitplanken“ vorgeben, innerhalb derer sie sich bewegen sollen.

So ganz ohne Hierarchie und Kontrolle geht es aber in einem Unternehmen nicht, ist Ralf-Wolfgang Lothert, Mitglied der Geschäftsleitung bei JTI Austria, überzeugt. „Individualisierung ist positiv, solang man sie unter Kontrolle hat“, sagt er provokant. Sein Tabakkonzern vollziehe einen radikalen Paradigmenwechsel von einer streng hierarchischen zu einer agilen Struktur.

Aber es müsse Grenzen des Individualismus geben. Tatsache ist, dass an einer neuen Unternehmenskultur kein Weg vorbeiführe. Aber diese Veränderungen müssen sehr gut vorbereitet sein. „Die Vorbereitung dauert länger als die Umsetzung“, sagte Lothert. Wichtig sei auch, dass sich Unternehmen während der Umsetzung „nicht vor kleinen Niederlagen“ fürchten.

Egotrips gab es immer schon

„Agilität ist kein Selbstzweck“, sagt Joachim von Schorlemer, als Vorstand der ING Deutschland auch für das Wholesale Banking in Österreich verantwortlich. Der Konzernumbau der ING-Bank in Deutschland habe damit begonnen, dass er sich mit seinen Vorstandskollegen einen Schreibtisch teilt. „Keiner hat mehr ein Büro“, erzählte er. Nur wenn die Organisation von der Spitze abwärts verändert wird, sei für alle klar: „Die meinen es ernst.“ Mittlerweile seien 50 Prozent aller Abteilungsleiterpositionen neu besetzt worden.

Headhunter Oliver Suchocki (Suchocki Executive Search) ist durchaus skeptisch, was den „Egotrip“ der neuen Mitarbeitergeneration betrifft. Individualisten habe es immer gegeben, sagt er. Und dass es heute davon ein Überangebot gebe, das sehe er nicht. Denn am Ende gehe es nicht um Individualisten, sondern um „Leistungsträger, die, wenn nötig, auch den Schubkarren in die Hand nehmen“. Doch oftmals könne leider die Leistung nicht mit dem Anspruch auf Individualismus Schritt halten.

Da hakte Tomaschitz ein, der eine Lanze für das Vertrauen in die Mitarbeiter brach. Natürlich gebe es in jeder Organisation Trittbrettfahrer, natürlich nützten immer einige die Freiheiten aus. Aber nur weil zwei Prozent Mist bauen, dürfen nicht 100 Prozent darunter leiden. „Das ist wie bei den Kleiderbügeln. Nur weil ein paar Leute diese aus den Schränken in Hotels gestohlen haben, plagt sich die ganze Welt mit diesen schrecklichen Bügeln mit Diebstahlsicherung“, meint der Personalchef des Grazer Technologiekonzerns. „Ein Unternehmen, das seinen Mitarbeitern misstraut, wird sehr teuer“, konstatiert er.

Gleichzeitig müssen Konzernziele natürlich von allen Mitarbeitern mitgetragen werden. Diese Entscheidung müsse jeder Mitarbeiter für sich selbst treffen und dann auch mit den Konsequenzen zurechtkommen. (g. h./mhk)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2019)

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