Kolumne "Führungsfehler". Viele Unternehmen schwören auf Stressinterviews. Weil sie mit ihrer Hilfe zu erkennen glauben, wie stressresistent Kandidaten sind.
Vier Bewerbungsrunden hatte der Kandidat schon hinter sich. Nun endlich wurde er dem Generaldirektor vorgeführt. Der Personalchef begleitete ihn, das Chefzimmer war leer, sie nahmen Platz. Sie mussten lange warten.
Dann plötzlich stürmte der Generaldirektor herein, warf dem Personalchef den Lebenslauf des Kandidaten vor die Nase und polterte: „Was soll ich mit so einem Lebenslauf? Der hat ja nicht mal Branchenerfahrung!“ Keine Begrüßung, kein Handschlag. Er blickte den Kandidaten nicht einmal an.
„Es gibt inhaltliche Parallelen“, erwiderte der Personalchef kurz und schaute zum Kandidaten. „Ich lerne schnell“, antwortete der. Der Generaldirektor verdrehte die Augen. „Sind Sie ein Jäger oder ein Sammler?“, herrschte er den Kandidaten an. Was sollte das schon wieder?
So ging es eine Weile. Bei jeder Replik des Kandidaten gab der Generaldirektor verbale oder nonverbale Zeichen seines Unmutes, schlug auf den Tisch und wurde noch lauter. Dem Kandidaten war bewusst, dass er in einem Stresstest steckte. Er wusste, er musste ruhig bleiben. Sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Klaren Verstand bewahren. Je besser ihm das gelang, desto ausfälliger wurde der Generaldirektor. Der wollte ja wissen, wie weit er gehen konnte.
Bis er es zu weit trieb. Mit einem Ruck stellte der Kandidat sein Glas ab. „Wissen Sie“, sagte er, „ich weiß natürlich, dass Sie nur meine Stressresistenz testen. Das machen Sie sehr gut. Aber ich für keinen Teil habe gerade beschlossen, dass ich in keinem Unternehmen arbeiten werde, das so viel Respektlosigkeit gegenüber seinen Mitarbeitern auch nur andenkt. Ich bin nicht mehr interessiert.“ Sprach’s, stand auf und ging.
Das Eigenartige an dieser Geschichte: Den „Generaldirektor“ gibt es wirklich. Er führt ein riesiges und über die Grenzen unseres Landes bekanntes Unternehmen.
Alle Welt kennt ihn als Mann mit auserlesen guten Manieren.
Das Management. Unendliche Möglichkeiten für Führungsfehler. Wenn Sie einen solchen loswerden wollen, schreiben Sie an: andrea.lehky@diepresse.com
Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Unternehmen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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