Menschen sind keine Kuckucksuhren

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Management im Kopf: Folge 100. Komplexität und Menschenführung: Kennen Sie Ihr Paradigma?

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Bobs Hände lagen auf seiner dick angeschwollenen Wange. Angespannt hoffte er, dass ich in meinem Adressbuch einem guten Zahnarzt fand. Seit Tagen hatte er ärgste Zahnschmerzen, und sich aus Angst viel zu lange Zeit gelassen, einen Zahnarzt aufzusuchen. Fremd in der Stadt, hatte er sich morgens in höchster Not mit einem Taxi zum nächstbesten bringen lassen. Von diesem war er verzweifelt zu mir geflüchtet: „Kennst du einen Zahnarzt, der sich mit Menschen auskennt?! Wenn ich keine finde, bringe ich mich um!“ Beim Zahnarzt, von dem er gerade komme, sei ihm schon bei der Tür der kalte Schweiß von der Stirne gelaufen! Doch der habe ihm nur gesagt: „Haben sie keine Angst.“ Mir sei ja klar, welches Paradigma hinter diesem „wahnsinnigen“ Appell stecke. Diesen(!) Zahnarzt lasse er „ganz sicher nicht!!!“ an sich heran. Über Bob (Name zwecks Diskretion geändert) sollte man wissen, dass er ein hochqualifizierter Systemwissenschaftler ist, und weshalb ihn der Appell dieses Zahnarztes so aufgeregt hat. Anlässlich der Hundertsten Folge eine Zusammenfassung der bisherigen Kernbotschaften dieser Kolumne.

Paradigma

Nicht alle, aber viele Leser und Leserinnen werden Bobs Angst gut verstehen. Aber können Sie auf Anhieb beantworten, was ein Paradigma ist? Dieser Begriff ist in letzter Zeit aus der Mode gekommen. Doch gerade im 21. Jahrhundert sollte klar sein, was er bedeutet. Denn die Konsequenzen reichen ziemlich weit, wenn man es nicht weiß. Einfach erklärt, handelt es sich bei einem Paradigma um eine grundsätzliche Denkweise und Weltanschauung. Im engeren Sinn ist es eine anerkannte Lehrmeinung, mit welchen Grundauffassungen Probleme wissenschaftlich korrekt erkannt, erforscht und erfolgreich gelöst werden können. Die Kybernetik und Systemtheorie, sind zum Beispiel Paradigmata – Paradigmata, die unsere Welt radikal verändert haben. Ohne sie gäbe es keine Informatik, keine Künstliche Intelligenz, keine Automatisierung, keine Robotik, kein Internet, keine Mobiltelefonie, usw. Sie haben aber nicht nur die Technik und infolge die Wirtschaft und Gesellschaft verändert, sondern auch die Problemlösungsstrategien in vielen anderen Wissenschaften.

Gigantische Macht

Weshalb haben Paradigmata eine derartige Gestaltungsmacht? Das liegt an unseren Sinnesorganen und an unserem Gehirn. Wir nehmen nicht wahr, was in der Welt ist. Wir nehmen das wahr, was wir über die Wesen und Dinge in der Welt glauben. Daher macht uns unsere grundsätzliche Weltanschauung „sehend“ für das eine, gleichzeitig aber „blind“ für alles andere. Sie ist das Relevanzfilter für unseren Eindruck von der Wirklichkeit, der Generator unserer höchstpersönlichen Realität. Ein Paradigma ist für unseren Geist also dasselbe wie ein Betriebssystem für einen Computer. Von ihm hängt ab, welche Signale wir gar nicht mitbekommen, welche wir ignorieren, welche wir aufnehmen und auf welche Art und Weise wir diese mit welchem Ergebnis verarbeiten.

Keine Kuckucksuhr

Aufgrund fundamentaler neuer Erkenntnisse und Entdeckungen kommt es mit einer gewissen Regelmäßigkeit – in mehreren Jahrzehnten bis knappen Jahrhunderten gedacht – immer wieder zu einem Paradigmenwechsel – zu einer völlig anderen wissenschaftlichen Weltauffassung. Der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff zählte sie zu den Basisinnovationen, die wenig später deutliche Wirtschaftsaufschwünge durch marktreifes Innovatives mit sich bringen. Der im Management leider zu einem Buzzword verkommene Begriff „Komplexität“ war übrigens ursprünglich als Hinweis auf einen solchen Paradigmenwechsel (und vorherzusehenden Wirtschaftsaufschwung!) gemeint. Als Hinweis auf die Denkschule der Systemwissenschaften, die das zuvor gültige Weltbild abgelöst haben, unter dessen Vorstellung man glaubte, alles in der Welt funktioniere so einfach und mechanisch wie eine Kuckucksuhr.

Zahlen oder Intelligenz?

Unter dem mechanistischen Erklärungsmodell wurden für das Funktionieren bzw. Nicht-Funktionieren aller Wesen und Dinge die physikalischen Größen Energie und Materie verantwortlich gemacht. Dank des systemwissenschaftlichen Paradigmas wurde dann aber klar, dass die grundlegende Charakteristik des Funktionierens auf deutlich komplexeren Wirkgefügen basiert, wobei man diese Komplexität auch exakt definiert hat (was man heute im Management immer noch weitgehend geflissentlich ignoriert). Klar wurde anhand der Systemwissenschaften auch, dass es sich bei der alles entscheidenden Grundgröße des Gelingens und Misslingens um „Information“ handelt. Genauer, um Signale, die sich von allen bisherigen unterscheiden und das Potenzial haben, Veränderungen auslösen. In Konsequenz gilt im systemwissenschaftlich basierten Ansatz in wirtschaftlicher Hinsicht zum Beispiel seither: Information ist wichtiger als Geld. Während sich der klassische Betriebswirt also nach wie vor an das mechanistische Paradigma klammert und Tag für Tag abmüht, die Vorgänge in einem Betrieb zu messen und in Geldwerte umzurechnen, konzentrieren sich qualifizierte Systemiker vor allem auf die Intelligenz, Qualifikation, Lern- und geistige Leistungsfähigkeit einer Belegschaft und die Qualität der digitalen Systeme.

Lineare und nichtlineare Wirkgefüge

Im mechanistischen Paradigma erklärte man das Funktionieren als lineare Wirkungsketten, in denen nacheinander ablaufende Impulse für das Entstehen von Wirkungen verantwortlich gemacht wurden: Wenn A dann B, wenn B dann C und so weiter. Das systemwissenschaftliche Paradigma agiert hingegen mit der Einsicht, dass immer eine nicht vollständig fassbare Vielzahl von Impulsen gleichzeitig, wechselwirkend und in nichtlinearer Abfolge hinter allen Qualitäten des Funktionierens stecken.

Die Welt ist keine Salatschüssel

Viel klarer wird das Gemeinte durch eine genial einfache Demonstration, auf die Wissenschaftler gerne zurückgreifen. Jeder kann sie mit einfachen Mitteln selbst vorführen: Man nehme eine große Salatschüssel und etwa fünf Gummibälle mit einem Durchmesser von drei bis vier Zentimetern. Um ein lineares Wirkgefüge zu demonstrieren, stelle man die Schüssel wie üblich mit der offenen Seite nach oben auf und werfe die Bälle hintereinander hinein. Es kann garantiert werden, dass sie – vorausgesetzt, es wurde gut gezielt – am Boden der Schüssel landen werden und dort liegen bleiben. Ein nichtlineares Wirkgefüge demonstriert man, indem man die Schüssel so umdreht, dass ihr Boden nach oben zeigt. Man werfe dann die Bälle wieder so Richtung Schüssel, dass sie auf dem Schüsselboden landen und liegen bleiben. Es ist dann höchst wahrscheinlich, dass kein einziger Ball auf dem genannten Ziel landen und bleiben wird. Die Bälle werden von der Schüssel in die verschiedensten Richtungen abprallen und irgendwo anders hinfallen und -rollen, aber so gut wie sicher nicht auf dem Schüsselboden landen. So funktioniert die komplexe, nichtlineare Welt. Verstehen Sie nun, weshalb Vieles nicht so läuft, wie gedacht? Unpassendes Paradigma. Mehr steckt nicht dahinter. So einfach ist das. Nicht ganz so einfach ist es, Zwecke trotzdem verlässlich zu erfüllen und Ziele trotzdem sicher zu erreichen. Aber es geht wunderbar und macht einen Heidenspaß, wenn man auf das passende Paradigma setzt.

Bobs Panik I

Nun, da die wichtigsten paradigmatischen Probleme hoffentlich klar geworden sind, zurück zu Bobs Panik. Seine grundlegende Panik vor Zahnärzten kommt daher, dass er ein hochsensitiver Mensch ist. Er nimmt viel mehr und schärfer als viele andere wahr. Er kann das Zusammenwirken vieler Faktoren viel schneller und besser als viele andere gleichzeitig bedenken. Er spürt aber auch etwa einen etwas zu knappen Hemdkragen abends noch genauso intensiv wie morgens beim Anziehen. Er hält es in lauten Bars keine ganze Minute aus, und vor allem empfindet er Schmerzen viel intensiver als viele andere. Schon als Kind brachte es ihn zur Verzweiflung, wenn ihm Zahnärzte, nachdem er bei ihrer Behandlung aufgeheult hatte, streng erklärten, was sie gerade täten, könne ihm gar nicht weh tun. Seither fürchtet Bob Menschen, die meinen, sicher wissen zu können, was ein anderer fühlt und denkt. Er lässt nur noch Leute näher an sich heran, die dem aktuellen Paradigma für komplexe oder nichtlineare Systeme folgen. Solche Menschen fragen andere nämlich bewusst, was in ihnen vorgeht, weil sie wissen, dass sie dies selber unmöglich sicher wissen können.

Bobs Panik II

Die Quelle, aus der Bobs akute Panik nach dem oben geschilderten Zahnarztbesuch kam, ist die paradigmatische. Mit dem Appell „haben sie keine Angst!“ hat ihm dieser Zahnarzt das Paradigma, auf das dieser damals gesetzt hat, implizit eröffnet. Nämlich das lineare Modell mit der nach oben offenen Salatschüssel, in der die Bälle sicher am Boden der Schüssel landen. Konkret, die Auffassung, Bobs Angst müsse durch den Appell, keine Angst zu haben, schlagartig verschwinden. Bob weiß, dass man nichtlineare Systeme nur mit nichtlinearen Strategien beeinflussen kann. Ja, wie erfüllt man Zwecke und wie erreicht man Ziele, obwohl die Welt und das Leben wie die Demonstration mit der umgedrehten Salatschüssel funktionieren? Das weiß man, wenn man die validen Aussagen der Systemwissenschaften gelernt, kapiert und die passenden Konsequenzen daraus gezogen hat. Die Kurzformel: Behandle niemals direkt das Problem, sondern immer das, was ein Problem steuert und reguliert. Steuere was steuert und reguliere, was reguliert. So einfach ist das. Wenn man es kapiert hat.

Trivial?

War Bobs Zahnarzt tatsächlich der Auffassung, es würde helfen, Bob einfach zu sagen, dass er keine Angst haben solle? Vielleicht war er einfach auch nur ungeduldig und gestresst. Dann nämlich greift das Gehirn nichttrivialer Weise gerne auf triviale Erklärungsmodelle zurück. Nämlich auf solche, die man sich schon in der Kindheit angelegt hat, zum Beispiel anhand der Weisheiten von geduldigen Opas und Omas. Jeder Mensch mit einigermaßen klarem Verstand weiß, dass es naiv ist, zu glauben, man müsse Menschen nur sagen, was sie fühlen, denken und tun sollen, damit sie es dann auch tun. Trotzdem kommt es unendlich öfter vor, als man an dieser Stelle meinen mag: „Kaufen sie!“ „Glauben sie mir.“ „Vertrauen sie uns.“ „Liebe mich!“ „Konzentriert euch!“ „Sei nicht traurig.“ „Denkt vernetzt.“ „Seid empathisch!“ „Versteh mich!“ „Schlaf endlich ein.“ „Sei spontan.“ „Seid kreativ!“ „Seid innovativ!“ „Seid motiviert!“ usw. Ständig und überall fallen solche Appelle. Doch nur noch selten sind sie ein Zeichen von Dummheit. Meistens sind sie nur ein Zeichen von abwesendem Denken. Sie fallen wider besserem Wissens. Aus unüberlegter Bequemlichkeit. Weil man offenbar lieber jene Anstrengungen auf sich nimmt, die notwendig werden, um absolut Probleme zu lösen, die man ganz einfach hätte vermeiden können, als jene, länger als ein paar Sekunden systematisch und konzentriert zu denken...

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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