Knigge und die Basics der Menschenführung

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Management im Kopf: Folge 104. Komplexität und Menschenführung: Ein kluger Ratgeber für eine gesunde Balance.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Was in zwischenmenschlichen Beziehungen passiert, wird von Feedbacks im kybernetischen Sinne gesteuert und reguliert. Von einem Leser kam die Frage, ob es ein Regelwerk gibt, das aufzeigt, wie zwischen Menschen eine ausgewogene Balance zwischen Negativem und Positivem Feedback hergestellt werden kann. Vielen Dank dafür. Aber ja, es steht seit 1788 zur Verfügung. Ich empfehle das Originalwerk des Freiherrn von Knigge mit dem Titel Über den Umgang mit Menschen. Aber nein, in diesem Buch geht es nicht um Fragen wie etwa in welche Richtung gefaltet die Dame und der Herr die Serviette auf ihren Schoß legen. Es geht um Regeln, die helfen, dass sich Menschen in der Umgebung anderer wohlfühlen können oder zumindest nicht unwohl fühlen müssen.

Zum Teufel mit dem Höfischen

Man beachte den Buchtitel des berühmten Knigges. Er lautet nicht Vom guten Benehmen, er lautet Vom Umgang mit Menschen. Der Freiherr war zwar ein Adeliger, hatte aber mit den engen Korsetten höfischer Etikette nichts am Hut. Ganz im Gegenteil, wie die folgende Legende erhellt: Eine Hofdame namens Henriette von Baumbach zog unterm Tisch oft heimlich ihre engen Schuhe aus. Aus Jux ließ Knigge einen davon heimlich hervorholen und ihr auf dem Silbertablett servieren. Das erboste die Fürstin des Hauses dermaßen, dass sie Knigge zwang, diese Hofdame zu heiraten. Er war viel eher Rebell als Schnösel, hing den Ideen der französischen Revolution und Aufklärung an und der Verwirklichung der Menschenrechte.

Ein System…

So schreibt Knigge im Vorwort dieses Buchs: „… Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen….“

Sozialpsychologie bevor es die Sozialpsychologie gab

Treue Leser dieser Kolumne wissen: Hier geht es immer wieder darum, zu beachten, wie stark wertvolle Originalwerke durch „Weiter- und Hörensagen“ zu fundamentalen Missverständnissen werden, die man dann für große Gedanken hält. Auch Knigges Werk hat dieses Schicksal erlitten. Schon zu seinen Lebzeiten war sein Umgang mit Menschen ein Besteller. Doch bald nach seinem Tod hat sein Verlag dieses sozialpsychologische Werk um Benimm- und Kleiderregeln erweitert, die aus seinem Werk einen trivialen Benimmratgeber machten. Drum steht Knigge heute als Synonym für Fragen wie etwa, mit welchem Besteck man welchen Gang isst. Doch bis heute wird auch immer wieder das Originalwerk neu aufgelegt, sprachlich adaptiert, aber gedanklich unverfälscht, zuletzt 2017 von Felix Goda.

Kostproben

Auch Knigge wusste, dass sich Originalwissen leider nicht wie Blütenpollen verbreitet. Drum riet er: „Sei ernsthaft, bescheiden, höflich, ruhig, wahrhaftig. Rede nicht zu viel. Und nie von Dingen, wovon Du nichts weißt.“ Und ganz allgemein: "Die Kunst des Umgangs mit Menschen besteht darin, sich geltend zu machen, ohne andere unerlaubt zurückzudrängen." "Gehe nie aus einem Gespräch, ohne dem anderen die Gelegenheit zu geben, mit Dankbarkeit an dieses Gespräch zurückzudenken." "Interessiere dich für andere, wenn du willst, dass sie sich für dich interessieren."

Sozialkybernetik bevor es die Kybernetik gab

Vieles, wenn nicht alles, gibt es in der Welt schon bevor es die Wissenschaft entdeckt. Die Schwerkraft zum Beispiel musste auch nicht auf Newton warten. Knigges Originalwerk steht in vieler Hinsicht für einen Ratgeber für angewandte Kybernetik in sozialen Belangen. Mir selbst ist es vor gut dreißig Jahren in einem Antiquariat in die Hände gefallen. In meiner Bibliothek hat es einen Ehrenplatz. Denn es ist eines der alten Bücher, die Zeugnis dafür sind, dass es immer schon Köpfe gegeben hat, die die Phänomene der Kybernetik klar erkannt haben. Sie gibt es nämlich auch schon immer.

Einander helfen und zusammenhelfen

Beziehungen in einem System haben nur einen Zweck, wenn es eines sein soll, dass das Leben leichter und angenehmer macht. Ihre Teile müssen einander helfen und sie müssen zusammenhelfen. Vom heutigen Trend der allgemeinen Bevormundung, wie man zu leben hat, hätte Knigge wohl nichts gehalten: „Es ist nur alles relativ klein und ist immer gut, wenn es nur nicht zwecklos und voll abgeschmackter Forderungen ist.“ „Klagt dir ein Freund seine Not, seine Schmerzen, so höre ihn mit Teilnahme an! Halte dich nicht mit moralischen Gemeinsprüchen auf, mit Bemerkungen über das, was anders hätte sein und was er hätte vermeiden können, da es doch einmal nicht anders ist! Hilf, wenn du es vermagst! Tröste und verwende alles, was ihm Linderung geben kann...“ Denn auch Knigge wusste: „Wenige helfen tragen; fast alle erschweren die Bürde.“

Das Gesetz der Homöostase

Beziehungen aller Art, auch die zwischenmenschlichen, bleiben so lange stabil, so lange in ihren Austauschbeziehungen Ausgewogenheit herrscht. Das Gesetz der Homöostase wurde vergangene Woche hier vorgestellt. Auch Knigge wusste das: „Dankbarkeit ist eine Tugend. Wer dir Gutes getan hat, den ehre. Danke ihm nicht nur mit Worten, die ihm die Wärme deiner Erkenntlichkeit zeigen, sondern ergreife auch jede Gelegenheit, wo du ihm wieder dienen und nützlich werden kannst.“ Denn: „Jedes zu große Übergewicht von einer Seite stört die Freundschaft.“ Das meint Kooperation im reinen Sinne. Es ist für niemanden hilfreich, wenn man mehr für ihn tut, als er selbst tun und ausgleichen kann. Denn es ist auch für niemanden hilfreich, wenn er weniger tun kann, als er anderen schuldet.

Das Gesetz der Entropie

Bei diversen Benimmregeln von heute, die als Knigge gehandelt werden, wäre dem Freiherrn vermutlich übel geworden. Er beherrschte das hochdifferenzierte Denken. Bei der Regel etwa, der Jüngere wird dem Älteren vorgestellt, der Herr der Dame, der Unbedeutende dem Bedeutenden, hätte er heutzutage wohl gefragt: Was tue ich, wenn ich das wahre Alter der Leute nicht (er)kenne? Was, wenn die Dame in Wahrheit ein Herr ist? Und: Gibt es überhaupt unbedeutende Menschen? Dass Wissen und Information dazu neigen, sich wie von selbst zu verändern, ja zu verschwinden, aber in keiner Weise die Fähigkeit haben, sich von selbst zu korrigieren oder gar wieder von selbst herzustellen, war auch Knigge schon klar: „Bei der Menge unnützer Schriften tut man übrigens wohl, ebenso vorsichtig im Umgange mit Büchern wie mit Menschen zu sein.“

Ashbys Gesetz

Je mehr verschiedene(!) Möglichkeiten ein System hat, um ein anderes System zu steuern und regulieren, desto mehr Störungen wird es ausgleichen bzw. kompensieren können. Das ist Ashbys Gesetz, eines der bedeutendsten kybernetischen Gesetze. Einfach gesagt, bedeutet es: Das Fertigwerden mit hoher Vielfalt verlangt mindestens ebenso Vielfalt. In zwischenmenschlichen Begegnungen zeigt sich das häufig zwischen Menschen, die viele verschiedene Kenntnisse und Fähigkeiten haben und Menschen, deren Interessen und Kenntnisse weniger vielfältig, wenn nicht sogar einseitig ausgerichtet sind. Sie können nicht wirklich gut miteinander, es sei denn, der Vielfältigere beschränkt sein Verhaltenspotenzial auf das, womit die andere Seite gut umgehen kann. Auch Knigge wusste das: „Man vergesse nicht, dass das, was wir Aufklärung nennen, anderen vielleicht als Verfinsterung scheint.“

Aufmerksamkeitssteuerung

Heinz von Foerster erzählte mir oft, wie ihm seine Großmutter Maria Lang, eine engagierte Frauenrechtlerin, die Ideen des Herrn Knigge beigebracht hat: „Heinz, du musst schon erkennen, wenn am Tisch jemand Salz braucht, bevor er darum bittet!“ Mit der Steuerung der Aufmerksamkeit beginnt das Meistern von Komplexität. Knigge himself dazu: „Alles lässt sich überwinden durch Standhaftigkeit; alles lässt sich vergessen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand heftet.“

Was man über sich und andere so sagt

Hemmungslose Selbstdarstellung und ungehemmtes Herziehen über andere hat es wohl immer gegeben. Doch erst seit Web 2.0 scheint die Welt davon überfrachtet. Ich bin nicht ganz sicher, ob es heute mehr ausgeprägt narzisstische Persönlichkeiten gibt als früher oder ob wir es nicht zumindest zum Teil mit Nachahmern zu tun haben, die meinen, egomanisches Auftreten gehöre zum guten Stil. „Suche in der Welt weniger selbst zu glänzen, als anderen Gelegenheit zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn du gefallen willst.“ Das hat Knigge dazu empfohlen, es bringt einem sicher mehr Freunde ein. "Glaube immer – und du wirst wohl dabei fahren – dass die Menschen nicht halb so gut sind wie ihre Freunde sie schildern, und nicht halb so böse, wie ihre Feinde sie ausschreien."

Menschen- und Selbstführung

„Menschenkenntnis, als die Hauptsache bei dem Umgang mit Menschen, wird am sichersten auf dem Wege der Selbsterkenntnis gefunden.“ Nicht zuletzt hat auch Knigge betont, dass es keine gute Menschenführung ohne gute Selbstführung geben kann, ja, dass Menschenführung immer auf Selbstführung basiert. Das ist pure Kybernetik. Es ging ihm nicht nur darum, dass sich andere um einen selbst herum wohlfühlen können, sondern ebenso darum, dass man sich selbst unter anderen wohlfühlen kann. Also, sollte es nicht ohnehin selbstverständlich sein: Schon aus reinem Egoismus könnte man es mit dem originalen Knigge versuchen. Denn auch das Phänomen der Rückwirkung war ihm nicht fremd. Er wusste so manches über die Einsamkeit von Menschen zu berichten, denen ein unangenehmes Verhalten Gewohnheit war…

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

(Maria Pruckner)

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