Marquis de Sade: Im Theater der Grausamkeiten

(c) EPA (Narendra Shrestha)
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Obwohl er bis in die Jetztzeit ausgefallene Fantasien befeuert, ist Sex im Werk des Marquis de Sade nicht gut. Das Böse und die Apathie greifen in den verworrenen Auswüchsen des Sadismus ineinander.

Da sitzt er also, der Regisseur, allgewaltig und in roten Samt gehüllt, der nur zwei spezielle Schlitze hat, um die Lust einund auszulassen, einen Schlitz vorn und einen hinten, so sitzt er in seiner Loge und lässt die Puppen an den Fäden seiner Lust zappeln. Ja, so sitzt der Regisseur und Libertin beim Marquis de Sade in seinem Sessel, in den ein Loch eingelassen ist, aus dem künstliche Godemichés ragen und lebende. Oder läppelnde Zungen, gierig nach dem milchigen Weiß des Samens. Der Regisseur ist Gott. Und sein eigener Gott ist der Sex. Da zieht er an einem Faden, eine Glocke klingelt unter der Bühne, und schon erscheint sie, die Frau, deren Bildnis mit der Glocke verbunden ist; noch einmal zieht er, und schon erscheint auch er, der Stecher. Sie finden sich auf dem Proszenium des Obszönen. Denn das Theater, das Sade aufführen lässt, ist ein Theater der Grausamkeit. Es endet in „Juliette" (1797/1800) damit, dass er den gesamten Bühnenboden einstürzen lässt. Die Schauspieler sterben oder kriechen verkrüppelt aus dem Schutt des Parketts. Der Fluss des Spermas aber bemisst sich nach der Zahl der Toten. Einmal müssen die Pärchen auf dem Parkett aufgrund der Musik erraten, welche Stellung dem allschauenden Auge in der Loge genehm ist: Je nachdem, wie sanft der Schweif des Bogens über die Saiten streicht, wird auf dem Klavier oder der Klitoris geklimpert, eine 69 geformt oder „ein Rosenkranz" - so nennt Sade eine Stellung, bei der 50 Nonnen, mit Dildos bewaffnet, einen Kreis der zuckenden Lust bilden. Das Medium der Zeitung verbietet, die weiteren Stellungen beim Namen zu nennen - doch kann man sich das selbst ausmalen oder per Internet in den Kopf klicken. Wichtiger ist: Wenn das Paar die Musik mit falschen Tanzschritten und falschen Stellungen interpretiert, wird es ausgepeitscht und zischheiß mit glühenden Eisen gebrandmarkt - so schreibt sich das ABC der Lust in die Körper ein.

Die 120 Premieren von Sodom. 600 Perversionen erzählen die vier Frauen in Sades „120 Tagen von Sodom" (1785). Sie stehen auf einer Art Bühne - und immer wieder drängt es die vier Libertins, das Erzählte selber darzustellen, das durch Sprache Repräsentierte selbst zu präsentieren -, und wir fragen uns, weshalb diese Lust die Zuschauer in den Theatern so selten überfällt? Dann würden sie die Bühne stürmen und nicht nur mitklatschen, sondern mitspielen. Das Eigenartige an der Pornografie, im Buch, im Netz, im Film und in den Kinosälen, ist, wie der Surrealist Paul Eluard schon 1927 seiner Angebeteten Gala aus Marseille geschrieben hat, dass der Konsument nicht passiv bleibt, sondern eingreift. Und so wird das Geschehen auf der Bühne bei Sade nicht nur zu einem Theater der Grausamkeit, sondern: zu einem Happening der Grausamkeit, da das Publikum auf die Bühne drängt und das Dargestellte sofort auslebt. Von seinem letzten Werk, mit 6000 Seiten doppelt so lang wie das zehnbändige „Justine & Juliette", sind nur ein paar einleitende Worte und zwei Skizzen erhalten, die eine zeigt ein Labyrinth, die andere: ein Theater! Dass Sades bizarre Phantasmen von Gewalt, Macht und Sex immer wieder auf die Bühne seiner Fantasie stürmen, ist kein Zufall: Denn ist Sex nicht immer schon Theater, in dem jeder eine Rolle spielt? Und kann man das Sexuelle nicht erst dann wirklich ausleben, wenn man die Verantwortung für sein Tun sozusagen an die Rolle, die man darzustellen hat, abgibt? Wenn man der Pornografie glaubt, beginnt es ja immer gleich: Nach dem Vorspiel geht der Vorhang auf, und der Hauptdarsteller wird präsentiert, groß und mächtig. Der aufgeblasene Popanz der Lust. Man könnte das neumodisch den Phallologozentrismus der Pornografie nennen. Nun, was dann folgt, ist die Inszenierung der eigenen Phantasmen. Bei den minderen Libertins von Sade spielen sie sich immer gleich ab: Ein Priester, der einem Knaben in den Schritt fasst, während er ihm die Beichte abnimmt - dann die nächste Beichte und so weiter. Die großen Libertins aber, darunter auch die Frauen Juliette, die Durand oder Clairwil, sie haben viele Phantasmen zur Verfügung. Und sie sind nicht immer nur Henker, sondern auch mal Opfer. Das ist das Wesen des sadomasochistischen Wechselspiels. Dieses Wechselspiel wird bei Sade verkuppelt mit jenem von Philosophie und Pornografie. Kurz bevor der Papst auf dem Altar im Petersdom eine schwarze Messe zelebriert und einen Jüngling defloriert, hält er eine 30-seitige Abhandlung zur Rechtfertigung des Mordes. Da wir hier die lange Kette der Argumente nicht wiedergeben können, seien nur Horkheimer/Adorno zitiert, die ihr größere Stringenz zugestehen als jener des Thomas von Aquin, der den Mord verdammt. Jedenfalls war Horkheimer/Adorno klar, dass die Dialektik der Aufklärung nicht ins Reich des Guten, Schönen und Wahren führt, sondern auch in die Abgründe der Hölle.

Sex ist gut - ein Ammenmärchen von 68. Seit 1968 wird uns immer wieder das Märchen erzählt, die Sexualität sei gut, und der Mensch natürlich auch. Der klassische Fehler beim Umkehrschluss: Sicher war die Unterdrückung der Sexualität schlecht, genauso wie die Unterdrückung des eigenen Denkens. Ob aber das befreite Denken und die befreite Sexualität gut seien - das ist zu bezweifeln. Dieses Märchen erzählte man uns auch bezüglich der Aufklärung: Von 1660 bis 1800 blühte eine seltsame Mischgattung von Büchern, in denen die sexuelle Aufklärung der Leser durch pornografische Szenen mit der intellektuellen Aufklärung durch philosophische Passagen Hand in Hand ging, wenn man so sagen darf, denn diese Bücher, Bestseller ihrer Epoche, wurden ja, wie Rousseau schamrot zugab, „mit einer Hand gelesen". „Sex ist gut fürs Denken" - so lautet der Schlachtruf der libertinen Literatur und heute bei Interpreten wie Robert Darnton. Freilich muss Darnton bei seiner naiven Feier dieser „Aufklärung von unten" jenes Werk ausklammern, in dem diese Tradition der Pornosophie gipfelte: den Marquis de Sade. Der sagt zwar auch: „Die Fackel der Philosophie entflammt am Ficksaft", aber nur um sogleich das gesamte Lehrgebäude vom guten Menschen abzufackeln. Einmal blättert Juliette, nachdem sie den Priester Claude, schwerbehangen wie je nur ein Karmeliter und mit drei Hoden gesegnet, durch ihre Beichte so aufgestachelt hat, dass er sich an ihr abreagieren musste, in den Büchern seiner Bibliothek und findet sie: die Klassiker der pornografischen Aufklärung von „Venus im Kloster" (1682) bis zu „Thérèse philosophe" (1748). Und legt die Bücher gelangweilt seufzend zur Seite, da in ihnen dem Leser letztlich geraten wird: an Gott zu glauben, an den König natürlich und die Vernunft. Diese drei Despoten aber köpfte Sade schon lange vor der Französischen Revolution.

Radikale Aufklärung der Aufklärung. Sade als Kant: So wie bei Kant das Gute ohne sinnlichen Antrieb getan werden muss, so auch bei Sade das Böse nur aus Apathie, aus kalter Gleichgültigkeit. Das zeichnet den großen Libertin aus. Noch ist Juliette nicht so weit, mit ihrer Freundin Clairwil schneidet sie Claude den gewaltigen Schwengel ab, präpariert ihn und führt ihn als künstlichen Dildo durch Italien. Die Männermörderin Clairwil („Ich hasse die Männer!") metzelt sie also mitsamt dem Popanz der Lust. Würde sich Sade nun nicht durch die „120 Tage von Sodom" blättern, sondern durch die „120 Sites von Sodom" klicken? Und welche Kategorie würde er wählen? „Red Hair" oder „Indian", „Group" oder „SM"? Nun, er hätte sich das wohl wilder vorgestellt, von seinen 600 Perversionen findet man vielleicht gerade mal ein Dutzend. Denn seine Libertins erinnern eher an die großen Despoten und Surrealisten der Jetztzeit: Der eine muss 37 Brandbomben auf Rom schießen, der andere den Ätna mit chemischen Mischungen zu einem Vulkanausbruch provozieren. Und der Papst träumt bei Sade davon, die gesamte Welt auszulöschen, damit die Natur alles noch einmal von vorn beginnen kann. Im Rahmen seiner karnevalistischen Inszenierung aller Formen öffentlicher Gewalt entlarvt Sade die Machtgelüste als sexuelle Triebe. Wenn aber Sexualität Macht ist, so steht auch die politische Macht im Dienste der Sexualität: „Es gibt keinen Menschen, der nicht Despot sein möchte, wenn er geil ist." Oder etwas aktueller: „Ich habe mir nie eingebildet, dass ein sogenannter Staatsmann irgendeine echte Leidenschaft besäße als die vollumfassende Befriedigung seiner Wollüste." Sex ist bei Sade nie gut. Aber auch nie Konsumgut - als Georges Bataille, einer der großen erotischen Autoren und Tabuverletzer des 20. Jahrhunderts, die „120 Tage von Sodom" las, wurde er von Fieber und Schüttelfrost erfasst und erbrach sich. Gerade die Instrumentalisierung der Sexualität und ihre Zurüstung auf das Konsumkonforme im Internet ist kein Zeichen von Befreiung, sondern der repressiven Toleranz. Vor allem aber fehlt eins: die philosophische Abhandlung. Sex ist bei Sade gut fürs Denken. Aber dieses Denken ist nicht „gut". Und der Sex schon gar nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2011)

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