Cannes: Erfolg für Dokumentation über „König der Juden“

Eichmanns Koenig der Juden
Eichmanns Koenig der Juden(C) Festival de cannes
  • Drucken

Die Uraufführung von Claude Lanzmanns österreichisch mitproduzierter, großer Dokumentation „Der Letzte der Ungerechten“ über Benjamin Murmelstein, den Judenältesten von Theresienstadt, wird in Cannes bejubelt.

Es sei kein Judaskuss, den er Festivaldirektor Thierry Frémaux jetzt gebe, sagt der 87-jährige Regisseur Claude Lanzmann auf der Bühne der Salle Debussy in Cannes, bevor die Vorführung seines neuen Films beginnt: „Der Letzte der Ungerechten“ („Le dernier des injustes“), Lanzmanns fast vierstündige Dokumentation über den umstrittenen letzten Judenältesten, den österreichischen Rabbiner Benjamin Murmelstein, wollte Frémaux eigentlich im Wettbewerb haben, aber der Regisseur lehnte ab.

Die österreichisch koproduzierte Dokumentation lief also außer Konkurrenz, was angemessen scheint: Das Werk des französischen Regisseurs überragt mit seiner historischen Wucht und moralischen Kraft das nur tagesaktuelle Gerangel um Festivalpreise.

Mit „Shoah“ setzte Lanzmann 1985 neue Maßstäbe für die filmische Beschäftigung mit dem Holocaust: Das neunstündige Dokumentarepos kombinierte Zeitzeugen-Interviews zur Judenverfolgung und der „Endlösung“ der Nazis mit gegenwärtigen Landschaftsbildern zur Jahrhunderttragödie. Viele bemerkenswerte Gespräche kamen nicht in den fertigen Film, weil sie in andere Richtungen wiesen. Seither hat sich Lanzmann als Filmemacher exklusiv mit deren Weiterbearbeitung beschäftigt: In „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ (2001) widmete er sich etwa dem Aufstand der KZ-Häftlinge. „Der Letzte der Ungerechten“ ist der längste, gewichtigste Film in diesem Nachlese-Zyklus.

Arendts Eichmann-Thesen „zum Lachen“

Zentrales Element sind die Interviews mit Murmelstein, die Lanzmann 1975 im Zuge der „Shoah“-Recherche eine Woche lang in Rom führte: Nach einer Aufführung von unbearbeitetem Material im Österreichischen Filmmuseum vor sechs Jahren beschloss Lanzmann, noch einen Film daraus zu machen. Trotz vieler Offenbarungen hätten Murmelsteins Erinnerungen wegen seines gleichermaßen harschen wie ironischen Duktus nicht gepasst, erklärte Lanzmann die ursprüngliche Auslassung. Nun zeigt sich der 1989 verstorbene Murmelstein in den langen Gesprächspassagen als Mann mit erstaunlichem Erinnerungsvermögen und als intelligenter, gebildeter, immer wieder sogar gewitzter Zeitzeuge: Sich selbst vergleicht er einmal mit Sancho Pansa – „ein kalkulierender Realist“ in einer Welt von Don Quichottes, die ihren Wahnfantasien folgten.

Als leitendes Mitglied der Israelischen Kultusgemeinde Wiens war Murmelstein ab 1938 für die von den Nazis geschaffene Auswanderungsabteilung zuständig, die dazu diente, die Emigration der Juden zu forcieren: Im Gespräch mit Lanzmann offenbart er dabei ein unübliches Bild von Adolf Eichmann und geht ins Gericht mit dem berühmten israelischen Schauprozess gegen den NS-Kriegsverbrecher. Nicht nur sei man da mit den Fakten schlampig gewesen – so hätte man Eichmann keine Beteiligung an der Reichskristallnacht nachgewiesen, obwohl Murmelstein selbst davon Zeugnis ablegt. Vor allem Hannah Arendts viel zitierte These aus ihren Prozessberichten von der „Banalität des Bösen“ sei „zum Lachen“.

Nicht der „banale Eichmann“, sondern der „korrupte Eichmann“ wird von Murmelstein geschildert: einer, der persönlich und zur Machterhaltung von der erzwungenen Emigration der Juden profitiert hatte und später das Konzentrationslager Theresienstadt persönlich kontrollierte.

„Eine Marionette, die selber Fäden zieht“

Als er Murmelstein nach der Ermordung des vorhergehenden Judenältesten in diese Position beförderte, geschah das mit den höhnischen Worten: „Ich werde dich zum König der Juden machen.“ Murmelstein selbst beschreibt seine Funktion als Leiter des „Vorzeigeghettos“, das auch für NS-Propaganda ausgeschlachtet wurde, so: Er sei eine Marionette gewesen, aber eine, die „die Fäden selber zieht“. Durch die Zusammenarbeit habe er Schlimmeres verhindern können, meint Murmelstein, der nach Weltkriegsende nicht untertauchte, sondern sich noch in der Tschechoslowakei den Prozess machen ließ – und freigesprochen wurde, aber angefeindet blieb. So ging er nie ins geliebte Israel, sondern blieb in Rom, eben als „der Letzte der Ungerechten“, wie sich Murmelstein selbst im Gespräch beschreibt.

Zwischen die Interviewpassagen setzt Lanzmann Zeichnungen vom Leben in Theresienstadt (von fast ausnahmslos ermordeten Künstlern) und als Gegensatz den berüchtigten, ein paradiesisches Dasein schildernden NS-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Vor allem aber wieder heutige Aufnahmen aus Wien und Tschechien. Oft wandert Lanzmann selbst durchs Bild und verliest aus Murmelsteins späterem Buch über Theresienstadt, etwa wenn er unter dem dortigen Galgen steht. Mehr als bloß Zeitzeugendokument oder ambivalente Auseinandersetzung mit der Rolle der Judenältesten, ist „Der Letzte der Ungerechten“ ein weiterer großer Lanzmann-Film darüber, wie Geschichte erzählt wird – und wie man sie neu erzählen muss, um in ihre Tiefen zu gelangen. Am Ende der Uraufführung gab es tosenden Applaus.

66. Filmfestspiele Cannes

Steven Soderberghs lang erwarteter Film „Behind the Candelabra“ mit Michael Douglas als Piano-Entertainer Liberace wird heute vorgestellt, schon am Wochenende lief „Inside Llewyn Davies“ von den Coen-Brüdern über die Sixties-Folkszene im New Yorker Greenwich Village. Mehr über beide Wettbewerbsbeiträge morgen in der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.