Cannes: Goldene Palme für eine Schuldgefühl-Satire

Ruben Östlund (Mitte) freute sich sichtlich über die Goldene Palme von Cannes - im Bild mit Schauspielerin Juliette Binoche und Jury-Chef Pedro Almodovar.
Ruben Östlund (Mitte) freute sich sichtlich über die Goldene Palme von Cannes - im Bild mit Schauspielerin Juliette Binoche und Jury-Chef Pedro Almodovar.APA/AFP/ALBERTO PIZZOLI
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Der Schwede Ruben Östlund gewann Sonntagabend mit „The Square“ die Goldene Palme. Es war einer der witzigeren Beiträge eines düsteren Wettbewerbs. Michael Hanekes „Happy End“ ging leer aus.

Nach seinem Palmensieg forderte der sichtlich aufgedrehte Regisseur Ruben Östlund das Preisverleihungs-Publikum in Cannes zu einem kollektiven Befreiungsschrei auf: Eine Geste wie aus seinem Film „The Square“, in dem bürgerliche Verklemmtheit immer wieder zu Schuldgefühlen führt und das Animalische nur darauf wartet, im falschen Moment hervorzubrechen. Der Titel bezieht sich auf ein Kunstprojekt, das der erfolgreiche Museumsdirektor Christian (Claes Bang) in Stockholm geplant hat. Ein kleiner, quadratischer Platz in aller Öffentlichkeit, wo Empathie und Rücksichtnahme herrschen sollen, ein Mahnmal für den Sozialvertrag in einer Blütezeit des Egoismus.
Doch wie Östlund in seiner ausgefransten Parabel demonstriert, ist Christian selbst alles andere als ein strahlendes Vorbild in Sachen Mitgefühl. Nachdem seine Brieftasche gestohlen wird, verstrickt er sich beim Versuch, sie zurückzubekommen, immer tiefer in ein Gestrüpp aus Widersprüchen zwischen Wort und Tat. „The Square“ arbeitet mit langen, präzise kadrierten Sequenzen, die oft vom Hochkomischen in lähmende Zerknirschung kippen.

Michael Hanekes indirekte Erben

Michael Hanekes sardonische Sozialdiagnose „Happy End“ ging gestern leer aus – doch die indirekten Erben des Österreichers wurden ausgiebig gewürdigt. Auch Östlund gehört als eine Art Haneke-Humorist zu ihnen. Sein Beitrag war einer der witzigsten in einem überaus düsteren Wettbewerb. Nach einer ungewohnt beschwingten Eröffnung mit dem exzentrischen Genre-Mix „Les fantômes d'Ismaël“ startete ein Spießrutenlauf durch Visionen der Verachtung, des Unglücks, der Korruption und der Niedertracht, der nur selten von Hoffnungsschimmern aufgelockert wurde. Insofern hatte „Loveless“, der Titel der ersten Wettbewerbspremiere, geradezu Motto-Charakter.
Verzweifelte Flüchtlinge wurden niedergeballert. Süße Wunderwesen mit dem Bolzenschussgerät hingerichtet. Beine amputiert und Wehrlose verprügelt. Vergewaltigungsszenarien durchgespielt. Eltern von Kindern und Kinder von Eltern getötet. Eine Vielzahl der Beiträge zeichneten die Gegenwart als Brutstätte von Egoismus und Narzissmus – sogar die Komödien. Andere boten Sittenbilder, deren Trost- und Ausweglosigkeit ihresgleichen sucht.

Vertreter der jüngsten Generation zählten zu den größten Leidtragenden vieler Kinoerzählungen des Wettbewerbs, was im Schatten des Anschlags in Manchester einen besonders bitteren Beigeschmack entwickelte. Am Tag nach dem Attentat reagierte das Festival mit einem offiziellen Kondolenzschreiben, vor vielen Screenings wurde eine Schweigeminute anberaumt. Das Echo des Verbrechens hallte durch die Säle, viele sahen den Sicherheitsfanatismus an der Croisette in einem anderen Licht. Fatih Akins (leider ganz und gar nicht gutes) Drama „Aus dem Nichts“ befand sich plötzlich irgendwo zwischen Gedenkfilm, Geschmacklosigkeit und Mahnwache: Diane Kruger spielt eine Mutter, die ihren kurdischen Mann und den gemeinsamen Sohn bei einem Bombenattentat verliert - sie wurde mit dem Preis für die beste Darstellerin ausgezeichnet.

Immerhin sucht Akin nach einer Art Katharsis. Andere Filme verweigerten diese kategorisch – besonders die beiden in Russland verorteten. Sie sperren das Publikum ins Herz der Finsternis und werfen den Schlüssel weg. Der bereits erwähnte „Loveless“ von Andrei Swjaginzew lässt ein Paar in ihrer Ehehölle lodern und hinterlässt nichts als Verbitterung. Er erhielt am Sonntag den Preis der Jury.

Intelligenter geht Sergei Loznitsa in „A Gentle Creature“ vor: Eine vom Leben gezeichnete Frau will ihren Mann in einem Provinzgefängnis besuchen. Der Film schickt seine Hauptfigur durch einen demütigenden Hindernisparcours, der schleichend immer surrealer wird – und schließlich komplett ins Groteske abdriftet. Der Titel verweist auf eine Kurzgeschichte von Dostojewski (und ein Spätwerk von Robert Bresson). Doch mit seiner epischen Entfaltung eines karikaturartigen, historisch unterfütterten Verkommenheitspanoramas steht „A Gentle Creature“ Gogol – und Karl Kraus – viel näher.

Auf seine Weise ist Loznitsas Film ein Meisterwerk. Doch auch er gibt einem wenig Grund zur Hoffnung. Die flackerte vor allem in Naomi Kawases cinephilem Rührstück „Hikari“ auf, über eine Autorin von Filmbeschreibungen für Blinde und ihre Beziehung zu einem älteren Fotografen, der langsam sein Augenlicht verliert. Und in „120 Beats per Minute“ von Robin Campillo, der als Denkmal für politischen Aktivismus wohl am ehesten den Nerv der Zeit trifft und dafür mit dem Großen Preis der Jury geehrt wurde. Auf Basis von persönlichen Erfahrungen berichtet er von der französischen „Act Up“-Bewegung in den Neunzigern, die mit gewaltfreien Interventionen Politik und Pharmaindustrie unter Druck setzte, um den Kampf gegen Aids voranzutreiben. Wie im Staffellauf wechselt er von gruppendynamischen Debatten zu intimen Liebesszenen, von Naturalismus zu Melodramatik. Doch seine unbändige Energie steckt an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2017)

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