„Zauberer“: Smartphones, Sex und eine Welt, die schmerzt

„Jetzt starrst du sie direkt an“, sagt der Mann (Nicholas Ofczarek) zu seiner blinden Freundin (Tamara Metelka, auch im wirklichen Leben Ofczareks Frau). „Du starrst ihr ein Loch in die Titten.“
„Jetzt starrst du sie direkt an“, sagt der Mann (Nicholas Ofczarek) zu seiner blinden Freundin (Tamara Metelka, auch im wirklichen Leben Ofczareks Frau). „Du starrst ihr ein Loch in die Titten.“(c) Thimfilm
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Eine Frau ist blind, ein Bub liegt im Koma, ein Kind wird entführt: „Zauberer“, der erste Spielfilm von Sebastian Brauneis, handelt auch von den Grenzen der Wahrnehmung und des Verstehens.

„Heller Teint. Volle Lippen. Sehr hübsch. Zwei vollkommen gleiche, schöne Brüste.“ Man sieht die Verkäuferin; man hört die Stimme des Mannes, der sie unverschämt beschreibt. Seine Frau, erklärt er, wolle wissen, wie sie aussieht. Trotzdem scheint die Verkäuferin verständlicherweise irritiert. „Stellen Sie sich vor, Sie könnten plötzlich nicht mehr sehen“, sagt der Mann. Dann reißt der Film, nein, nur das Bild ist weg, kurz auch der Ton, vielleicht fünf Sekunden. So lang ist – nichts. Der Effekt ist schlicht, aber ergreifend, und er ist repräsentativ für diesen Film, der – unter anderem – über die Grenzen der Wahrnehmung handelt, und auch über die Grenzen des Verständnisses.

Ein Therapeut erzählt seiner blinden Frau die Welt. Er kauft ein Aquarium. Eine Frau pflegt ihren Sohn, der im Koma liegt, zärtlich. Ein Jüngling kritzelt seine Telefonnummer mit obszönem Offert an eine Wand. Die Schulärztin entführt einen Schüler. Die Mutter lädt einen Callboy zu sich, will vor ihrem Sohn mit ihm verkehren. Der Mann der Blinden sieht den Entführten am Fenster weinen. Der Bruder der Schulärztin erwacht im Aquarium, die Blinde misshandelt sich vor seinen Augen. Und so fort.

Passen die Geschichten zusammen?

Ob sich aus all diesen Szenen, Geschichten eine Erzählung ergibt? Oder hat der bisher im David-Schalko-Umfeld („Sendung ohne Namen“ etc.) tätige Wiener Regisseur Sebastian Brauneis – wie einst David Lynch in „Mulholland Drive“ – eine logische Bruchstelle eingebaut, die widerspruchsfreies Zusammenfügen verhindert? Ist die Handlung vielleicht gar nur eine Konstruktion des Therapeuten für seine blinde Frau?

Wohl nicht. Irgendwie scheint alles zu passen, Smartphones – eines wird in der ersten Szene des Films in einem Hochofen (!) erzeugt – verbinden die Schicksale. Aber die Assoziation mit Lynch kommt nicht von ungefähr. Wie dessen Filme (man denke an das ständige leise Surren im ersten Teil von „Lost Highway“) ist auch „Zauberer“ voller Geräusche, die leicht unangenehm sind. Alles ist zu nahe, zu laut. Das Kratzen der Plastikflaschen auf dem Gitter. Die Nadel auf der Platte. Das Schnarren der Türglocke, das Quäken des Telefons. Atmen, Hauchen, Keuchen. Schlucken, Würgen, Weinen. In dieser übersensibilisierten Hörwelt gewinnt die Musik, die Brauneis erfreulich sparsam einsetzt, besondere Bedeutung: das Italo-Disco-Stück „I Like Chopin“ (1983), das Chanson „Ce petit cœur“ von Françoise Hardy (1965), das in seiner herzigen Frische die bedrückenden Erzählstränge konterkariert. Und, in Schlüsselsequenzen, ein von Wolfram Eckert geschriebenes Stück Kalt-warm-Elektro im Stil der frühen Achtziger: zauberhaft auf mechanische Weise.

So überdeutlich die Akustik, so unterdeutlich ist die Optik. Meist ist es zu dunkel, man erkennt die Dinge erst spät. Nur selten sind auch sie grell, wie die Blutkruste auf der Lippe des Buben, die Nadel, die hineinsticht. „Narben können auch was Hübsches sein, für Frauen“, sagt die Schulärztin. Der Bub blickt in die Ferne, wie entrückt, als wüsste er, was ihm bevorsteht. Er wird nicht verstehen, was die Frau, die ihn mitnimmt, von ihm will, wir verstehen es nicht, sie versteht es wohl auch nicht, doch es sind quälende Szenen, auch quälend langsam geschnitten, wie jene, in der die Mutter und der Callboy einander näherkommen und doch nicht.

Einmal wählt die Kamera sogar jene Einstellung, die uns in jeder „Tatort“-Folge sagen soll, dass diese kalte Welt die Seelen kriminalisiere: Blick von unten auf eine kahle Fassade. Es ist der Therapeut, der so hinaufschaut, diesmal ohne seine Frau, der er beibringen will, mit seinen Blicken zu spüren, und er wird zum Zeugen.

„In Deutsch geht es nur um den Tod!“

Nicholas Ofczarek spielt diesen rätselhaften Charakter, er spielt ihn, wie es so seine Art in Filmen ist, eine Spur zu theatralisch, aber hier passt genau das gut. Ähnlich Regina Fritsch als Schulärztin und Entführerin: Wie sie möchtegernmütterlich redet und dreinschaut, tut weh, und das soll es.

Überhaupt: Dieser Film ist schmerzhaft, wie die Romane des Clemens Setz, der mit Brauneis und Ofczarek das Drehbuch geschrieben hat. „Na ihr, wollt's was sehen?“, sagt ein Mann am Anfang des Films zu den beim Stripteaselokal lungernden Burschen. „Nein danke“, sagen sie zögernd. Später sagen sie: „In Deutsch geht es nur um den Tod!“ Dann schrillt die Schulglocke. In „Zauberer“ geht es nicht um den Tod, sondern ums Leben; wer es zaubert, bleibt offen. Überreizte Nervenkunst, sehenswert, wenn man's erträgt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2018)

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