Aber die Richterin kannte nur die Aktenlage

Mutter (Léa Drucker) und Sohn (Thomas Gioria) versuchen vergebens, den Vater zu besänftigen.
Mutter (Léa Drucker) und Sohn (Thomas Gioria) versuchen vergebens, den Vater zu besänftigen.KG Productions
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Xavier Legrand porträtiert in „Nach dem Urteil“ das Leben einer Familie unter ständiger Bedrohung durch den misshandelnden Vater.

Es gibt in diesem Familiendrama von Xavier Legrand, für das er letztes Jahr auf den Filmfestspielen von Venedig zurecht den Regie-Preis einheimste, eine mehrmals wiederkehrende Großaufnahme, die sich einprägt, weil sie das Leid eines von Misshandlung betroffenen Kindes auf den Punkt bringt. Man sieht den 12-jährigen Julien im Auto seines Vaters. Er sitzt wie in Schockstarre da. Direkt am Steuer ist die Ursache seines Unbehagens platziert: Sein Vater Antoine (Denis Ménochet). Ein bullig gebauter, bedrohlich anmutender Mann mit breitem Kreuz. Vor dem Jugendgericht hat er eine Besuchserlaubnis für den Sohn erzwungen. Jedes Wochenende spannt er ihn seitdem in ein perverses Spiel ein.

Durch Drohungen, falsche Versprechungen und kaltes Schweigen hält er ihn in Abhängigkeit. Er soll erzählen, ob die Mama einen Neuen hat. Wo die geheime Wohnung ist, in die sie gezogen sind. Wenn sein junger Beifahrer bereits mit den Tränen ringt, traktiert er ihn weiter. Einmal ergreift Julien die Flucht. Aber er kommt natürlich umgehend zurück. Wo sollte er auch hin? Also verrät er dem Vater die Adresse seines neuen Heims, woraufhin dieser ungefragt in es eindringt, es inspiziert, und in der Küche einem krankhaften Heulkrampf verfällt.

Schritte im Hausflur

Die Mutter (Léa Drucker), starr vor Angst, lässt ihn gewähren. Es wird nicht das erste Mal sein, dass er eine Grenze überschritten hat. Man merkt es dem eingespielten Umgang der Familie mit dem Riesen an. Dass alle im Ansatz zu wissen scheinen, wie sie ihn nicht weiter provozieren: Schweigsam müssen sie dann werden – passiv, unterlegen, das diskrete Publikum für seine selbstgerechten Anfälle. Er weint dann möglicherweise nur ganz jämmerlich und verschwindet wieder. Aber wirklich weg ist er nie.

Die Schauspieler sind in ihren Rollen als verstörte Kleinfamilienmitglieder allesamt überzeugend. Vor allem der Laiendarsteller, Thomas Gioria, der den Sohn intensiv und glaubwürdig verkörpert, ist eine Überraschung. Legrand, der auch das Drehbuch verfasste, zeichnet in sozialrealistischer Nüchternheit und mit konzentrierter Bildsprache das neue Leben der geschiedenen Frau. In der Optik ist er um Schärfe, in der Darstellung um Realitätsnähe bemüht. Eine dunkle Nacht. Papa läutet Sturm. Nervös, aber kontrolliert legt die Mutter den Hörer der Sprechanlage beiseite. Aber irgendwann nähern sich Schritte im Hausflur. Der subtile Grusel erzeugt gleichwohl keinen Kitzel, sondern echtes Unbehagen.

Die anschließende Eskalation wirkt dann wie eine bodenständigere Übersetzung des Horrorklassikers „The Shining“, wo der Vater mit der Axt auf seine Frau und ihr gemeinsames Kind losgeht. Hier ist es ähnlich. Ein Ausbruch der Gewalt, der wie ein Alptraum inszeniert ist. Vor Furcht keuchende Körper in der Dunkelheit. Der Durchstoß bei der Eingangstür. Die Flucht in ein notdürftiges Versteck. Die Hilfe, die auf sich warten lässt. Man kann schon die künftigen seelischen Schäden voraussehen, die der Bube davontragen wird.

Es gibt am Anfang eine längere Sequenz, die zeigt, wie ungenügend der Blick der Justiz für Offensichtliches sein kann. Bei der Anhörung im Sorgerechtsstreit wird ein Brief von Julien vorgelesen, der besagt, dass er den Vater nicht mehr wiedersehen möchte. Gewaltausfälle von ihm werden zu Protokoll gegeben. Aber die Richterin kennt natürlich nur die Aktenlage. Aus Mangel an Beweisen und weil die Gutmütigkeit des Mannes von seinen Arbeitskollegen bezeugt wird, bekommt der Vater seinen Willen.

Aber das daraus hervorgehende Drama hat noch weitere, ältere Ursachen, die immer bloß angedeutet, aber nur selten ganz offen gelegt werden. Der Vater war schon vom gefrusteten Prügelpapa zum nachtragenden Sadisten mutiert, als der Film begann. Die wenig wohlhabende Mutter ist nicht erst seit gestern zu wehrloser Resignation verurteilt. Und die Kindheit des Buben war noch nie unbeschwert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2018)

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