Im Kino: Liebestolle Trolle außer Kontrolle

Nordische Trollsagen spielen hier herein, auch wenn von Trollen nie die Rede ist: Eva Melander als Zollbeamtin mit besonderen Fähigkeiten.
Nordische Trollsagen spielen hier herein, auch wenn von Trollen nie die Rede ist: Eva Melander als Zollbeamtin mit besonderen Fähigkeiten.(c) Luna Film
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Im schwedischen Fantasydrama „Border“ fühlt sich eine Zollbeamtin zu einem unheimlichen Außenseiter hingezogen. Ein kluger, düsterer und sinnlicher Film.

Es ist der Wunschtraum jeder Grenzschutzbehörde: Personal, das jeden Regelverstoß riechen kann. Nicht nur olfaktorisch auffällige Substanzen (dafür gibt es Drogenhunde), sondern auch duftlose Schmuggelware und am besten auch Angst, Unsicherheit. Diese Fähigkeit macht Tina, die Hauptfigur des außergewöhnlichen schwedischen Films „Border“, zur unersetzlichen Hafenzollbeamtin. Mit untrüglicher Intuition pickt sie aus Hunderten Passanten den heraus, der illegale Konterbande mit sich führt; ihr hoch entwickelter Geruchssinn ist ein verlässlicher Verbrechensdetektor.

Doch was in Comic-Blockbustern à la „X-Men“ als Superkraft firmiert, mutet in „Border“ wie eine Selbstverständlichkeit an. Ebenso wie Tinas Physiognomie. Mit ihren vorstehenden Vorderzähnen, dem klobigen Neandertalerantlitz sticht die gedrungene Mittvierzigerin aus der Masse heraus. Früher, so vermutet man, wurde sie für ihre Eigenheiten gehänselt, als Ungeheuer beschimpft. Das hat Spuren hinterlassen – mit Menschen kann die Schnüfflerin nicht so gut.

Die Sehnsucht der Aussätzigen

Das Genre des Fantastischen eignet sich hervorragend, um vom Anderssein zu erzählen. Monster und Fabelwesen sind Mustermetaphern für Fremdheitsgefühle: In Shelleys „Frankenstein“ geht es auch um Sehnsucht eines Aussätzigen nach Anerkennung in einer Welt, die ihm Menschlichkeit abspricht. Doch die dunkel-romantischen Gleichnisse bleiben meist märchenhaft. „Border“ wählt einen geerdeten Zugang.

Tinas Leben ist ausgesprochen banal. Auch ästhetisch erinnert der Film eher an sozialrealistische Dramen als an die ziselierten Fantasien eines Guillermo del Toro: Graue, austauschbare Durchschnittsorte stellen die Schauplätze. Nur im Wald, wo Tinas dürftige Behausung steht, sie zum Ausspannen lustwandelt und sich nackt in den Teich sinken lässt, blühen die Bilder auf: Plötzlich riecht man das Gras, spürt den Regen auf der Haut.

Und eines Tages taucht Vore auf. Mit brauner Lederjacke, tiefer Stimme, durchdringendem Blick und einer Aura des Gefährlichen. Tina weiß sofort: Ein Mensch ist dieser hünenhafte Bad Boy nicht. Aber irgendwie genau wie sie. Zögerlich beschnuppern sich die zwei, er offeriert ihr eine Made als Liebesgeschenk. Erst ekelt sich die Angeflirtete. Dann beißt sie gierig zu.

So bricht sie eine Grenze auf, die den Blick auf ihre wahre Identität verstellt hat. Die Spannungen zwischen Konformitätsdruck und Selbstverwirklichung, Natur und Zivilisation, Ich und dem anderen: Davon handelt diese kluge, sinnliche, düstere, manchmal auch dezidiert ung'schmackige Geschichte. Das widerborstige Protagonistenpaar könnte für alle erdenklichen Minderheiten stehen; doch jeder, der das Gefühl von Unzugehörigkeit kennt, wird einen Draht zu ihnen finden. Die beiden Charakterdarsteller Eva Melander und Eero Milonoff brillieren hinter dickem, aber völlig unaufdringlichem Make-up, das für einen Oscar nominiert war.

„Border“-Regisseur Ali Abbasi weiß selbst, wie es ist abseitszustehen. Der 1981 in Teheran Geborene kam erst 2002 zwecks Studiums nach Schweden. Sein frühes Interesse galt der Literatur, und die Vorlage für sein Kino-Zweitlingswerk (2018 gewann dieses übrigens den Hauptpreis der Cannes-Nebenschiene „Un Certain Regard“) stammt vom Schweden John Ajvide Lindqvist. Dessen markanter Vampir-Roman „So finster die Nacht“ wurde schon 2008 wirkungsvoll verfilmt, als winterlicher, ernster Genremix. Auch „Border“ spielt mit Horror- und Krimielementen, lässt sich aber, wie seine Hauptfiguren, in keine Schublade zwängen.

Magischer Realismus und Trollsagen

Als Vorbilder nennt Abbasi magische Realisten lateinamerikanischer Prägung, etwa Carlos Fuentes und Gabriel García Márquez. Wie sie verwischt er gern die sonst so klaren Trennlinien zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit, lässt Mythen ins Reale sickern, um Gewohntes in mysteriöses Dämmerlicht zu rücken. „Border“ zapft etwa das Fantasiesubstrat nordischer Trollsagen an – doch das T-Wort fällt im Film kein einziges Mal.

Auch triviale Toleranzbotschaften und plumpen Liebeskitsch gibt es hier nicht. Hier geht es nicht um Gut oder Böse, Richtig oder Falsch. Stattdessen um die Auslotung von Grauzonen, in denen sich schwierige Fragen aufdrängen; was einen Menschen eigentlich ausmacht, ob die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden konstitutiv für Gesellschaften ist, welche Grenzen sich verschieben lassen und welche nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2019)

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