"Thelma": Bibelvisionen bei jeder Erregung

Thelma
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In Joachim Triers Film treiben fanatisch konservative Eltern ihrer übermenschlich begabten Tochter alle Laster aus - mit dramatischen Folgen.

In dem Horrorfilm-Klassiker „Das Dorf der Verdammten“ wurden die Erwachsenen von einer Gruppe grauhaariger Kinder mit blinkenden Augen zu Suiziden verleitet. In „Der Exorzist“ infiltrierte ein frühpubertäres Mädchen, das in seinen Spasmen vulgäre Sexposen imitierte, die keuschen Schlafstuben der Alten. Und in der Joe-Dante-Episode aus „Unheimliche Schattenlichter“ war ein Bube in der Lage, seine Cartoon-gesättigten Gewaltphantasien zu materialisieren und gegen die Volljährigen zu richten. „Thelma“ reiht sich in diese Riege phantastischer Gruselfilme ein, in denen unterschwellig die Angst der Eltern vor dem Aufbegehren ihrer Kinder behandelt wird.

Aber genau wie Brian DePalma in „Carrie“ vollzieht auch der norwegische Regisseur Joachim Trier eine Umkehr der klassischen Rollenverteilung – nicht die rebellischen Kinder sind der Buhmann, sondern ihre konservativen Erziehungsberechtigten. Die in Thelma auftretenden Eltern verbergen ihre Forderung nach Sittentreue und Zölibat nur besser als die messerschwingende Fanatikerin in den Siebzigerjahren bei DePalma. Sie bedienen sich der ausgestellten Kumpelhaftigkeit zeitgenössischer Autoritäten. In jedem Gesprächsangebot schwingt ein Befehl zur Selbstentblößung mit. In jeder Reaktion auf ein leises Zurückweichen der unterschwellige Vorwurf des Verrats.

Als Thelma sechs Jahre alt war, fiel ihnen erstmals auf, dass ihre Tochter durch reine Gedankenkraft die Wirklichkeit beeinflussen kann. Was sie in ihrem Innersten begehrt, tritt ungeachtet aller naturgesetzlichen und zwischenmenschlichen Widerstände in Kraft. Im Kleinkindalter, als ihr der Unterschied zwischen dem Tod und dem Verschwinden eines unliebsamen Konkurrenten noch nicht geläufig war, erzeugte das erste Aufflackern ihrer übermenschlichen Gabe eine Familientragödie. Die Eltern trichterten ihr daraufhin mit Bibel und Beichtstuhl ein, alle christlich definierten Laster und Versuchungen zu meiden, die sie übereilt als Gefahrenquelle für einen möglichen neuen Ausbruch ihrer „Krankheit“ identifizierten.

Vögel knallen ans Fenster

Der Wunsch nach Lusterfüllung, der sich seither in ihr eingewurzelt hat, bricht erst hervor, als sie zum Studieren in die Stadt zieht. Die Eltern haben sie gehen lassen. Aber überwachen sie weiter durch Kontrollanrufe und Internet-Stalking. Thelma reagiert auf die Übergriffigkeiten zunächst mit Untertänigkeit. Bis sich ihr Horizont in der neuen Heimat zu erweitern beginnt. Plötzlich knallen wie in einem apokalyptischen Wachtraum dutzendfach Vögel gegen die Fensterscheiben der Unibibliothek. Alle Lampen werden zu Stroboskopen. Die Heldin verfällt spastischen Zuckungen. Als würde etwas Unterdrücktes mit aller Gewalt aus ihrem Körper nach außen dringen wollen.

Später, wenn sich ihre Visionen überschlagen, weil sie eine Studienkollegin zu begehren begonnen hat, erfährt sie jeden Moment sexueller Erregung als ekstatische Ohnmacht. Unter der Haut ihres heimlichen Liebesobjekts sieht sie dann ein schimmerndes Geflecht aus Adern und Blut pulsieren. Das kirchliche Berührungsverbot hat das Fleisch des anderen in transzendentale Sphären erhoben. Sie zuckt ehrfürchtig davor zurück. Und wird beim geringsten Hautkontakt von einem Donnerwetter biblischer Assoziationen gepackt, die um den Mythos von Ursünde, Auferstehung und Offenbarung kreisen.

Ein lesbischer Messias

In der Vorstellungswelt von Thelma, die Trier nach außen stülpt, steht die Heilsgeschichte jedoch mit Eros im Bunde. Umgekehrt zur Prophezeiung ereilt das jüngste Gericht hier nur die frommen Prediger der alten Ordnung. Zum Schluss, nachdem sie zum Glauben an das Offene konvertiert ist, taucht Thelma aus dem Schwimmbecken im Hallenbad wie aus einer mit Weihwasser gefüllten Fruchtblase hervor. Ein Messias der Jungen - ein Rachegott für die Alten. Lesbisch, androgyn, und wie Trier zum subkulturellen Phantasieren wider aller Konventionen begabt.

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