Staatsoper: Wer möchte 300 Jahre lang leben?

PROBE: ´VEC MAKROPULOS (DIE SACHE MAKROPULOS)´ IN DER WIENER STAATSOPER
PROBE: ´VEC MAKROPULOS (DIE SACHE MAKROPULOS)´ IN DER WIENER STAATSOPER(c) WIENER STAATSOPER/MICHAEL PÖHN
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Leoš Janáčeks vorletzte Oper, „Die Sache Makropulos“, und die Frage, warum unsere Sterblichkeit wünschenswert ist. Peter Stein inszenierte das Werk detailversessen wie ein Tschechow-Stück.

Musiktheater, richtig verstanden: Ein Regisseur bringt ein exzellentes Sänger-Ensemble dazu, wie Schauspieler zu agieren, aber dabei auf die Musik nicht zu vergessen. Er hört, was das Orchester über die Protagonisten zu erzählen weiß, und spiegelt diese klingenden Seelenprotokolle in der szenischen Aktion. Wer Derartiges erreicht, widerlegt die These, dass nur willkürliche Neu- und Umdeutungen von Libretti und Handlungen ein heutiges Publikum interessieren könnten.

Das Gegenteil ist der Fall. Peter Stein weiß das und hält sich getreulich an die aus einem Stück von Karel Čapek destillierte Textvorlage von Leoš Janáčeks vorletzter, 1926 uraufgeführter Oper „Die Sache Makropulos“. Er hat dem Werk damit zu einer beeindruckenden, fast eine halbe Stunde lang beklatschten Erstaufführung an der Wiener Staatsoper verholfen.

Dass die „Sache“ so lange auf ihre erste Einstudierung im Haus am Ring warten musste, liegt wohl an der Sperrigkeit des Sujets. Eine schöne Frau lebt dank eines für Kaiser Rudolph II. gebrauten Zauber-Elixiers mehr als drei Jahrhunderte lang, wandert ewig jung durch die Zeiten, trägt stets Namen mit den Initialen E. M. und erkennt zuletzt, welche Gnade es für den Menschen ist, sterblich zu sein.

Wesen von magischer Anziehungskraft

So etwas erzählt sich nicht leicht. Doch gelingt es Peter Stein, aus Laura Aikin ein Wesen von magischer Anziehungskraft zu formen, das (von Joachim Barth) in zauberisch weißes Licht getaucht, sämtliche Männer um den Finger wickelt. Als Elena Makropulos oder Ellian MacGregor ist sie bereits über Leichen gegangen, als berühmte Sängerin Emilia Marty erleben wir sie, wie sie auf der Opernbühne von den unterschiedlichsten Verehrern hofiert wird und einen jungen Mann in den Tod treibt. Sie selbst bleibt allen gegenüber kalt, abweisend, zynisch, von grausamer Distanziertheit.

In einem schwachen Moment bekennt sie, wie viele Verwundungen sie selbst in all den Jahrhunderten davongetragen hat, wie sie am Leben leidet, wie ihr „seit 200 Jahren“ ständig wachsende Kopfschmerzen das Dasein verbittern. Über die Szenen hin erleben wir ein Diminuendo an Lebensgeist und zuletzt in einem ausladenden Monolog die aufkeimende Sehnsucht nach dem Tod. Das über die Akte der Oper hin verzweifelt gesuchte Rezept des Zaubertranks, der 300 weitere Lebensjahre spenden würde, hat sich zwar gefunden. Doch Emilia Marty gibt es an die Geliebte jenes Mannes weiter, den sie gerade in den Tod getrieben hat. Diese verbrennt es.

Klänge werden zu Gesten und Gebärden

Emilia, plötzlich in Mumienmaske, kann endlich sterben. Das große Finale ist der einzige Moment, in dem Janáčeks Musik zu größeren melodischen Phrasen findet. Im Übrigen setzt sich die Partitur aus kleinteiligen pittoresken Klangskizzen zusammen, die pulsierend, wuchernd, flammend die Handlung vorantreiben – und sich dank der einfühlsamen Personenführung tatsächlich in den Gesten und Gebärden auf der Szene widerspiegeln.

Das psychologische Kammerspiel setzt Peter Steins Bühnenbildner, Ferdinand Wögerbauer, genau in die vorgeschriebene Szenerie: eine Anwaltskanzlei, ein Bühnenrund (diesfalls, versteht sich, das der Wiener Staatsoper), ein luxuriöses Hotel-Appartement. Darin bewegen sich die Darsteller in realistischen Kostümen von Annamarie Einreich völlig natürlich.

Mit ebensolcher Natürlichkeit wird gesungen, obwohl Janáček nicht gerade vorsichtig mit den Stimmen umgeht. Er verlangt ausdrucksvollen Gesang in oft extremen Lagen. Niemand hat damit Probleme. Die Gestalten (nicht nur die faszinierten Männer von Carlos Osuna und Markus Marquardt bis Marcus Pelz) kreisen nolens volens um die Zentralsonne Emilia Marty alias Laura Aikin, deren Sopran blühend schön und mühelos bis zum hohen C auch die heikelsten Passagen bewältigt und im Schlussmonolog trotz der zunächst zur Schau gestellten Eiseskälte bewegend tönt.

Sängerkollegin Krista, Margarita Gritskova, blickt zunächst bewundernd zur Vorbildgestalt auf, ehe sie am Freitod ihres Geliebten verzweifelt. Wolfgang Bankl ist als Anwalt ebenso gefesselt wie abgestoßen von der offenbar alles wissenden Anti-Heldin, Heinz Zednik absolviert wieder einmal ein darstellerischers Kabinettstück, in dem er zweimal als verrückt gewordener alter Mann kichernd hereintorkelt und in Emilia eine ehemalige spanische Tänzerin erkennt, die vor Jahrzehnten genau so ausgesehen hat wie Emilia heute . . .

Bis hin zu den kleinsten Rollen finden wir liebevoll gestaltete Figuren, ob Ilseyar Khayrullovas Kammermädchen, Thomas Ebensteins Rechtsanwalts-Gehilfe Vitek oder Aura Twarowskas Putzfrau. Vermutlich sind alle miteinander dank der Durchlässigkeit des orchestralen Klanggeflechts auch wortdeutlich. Das müssen Besucher feststellen, die des Tschechischen mächtig sind. Alle anderen müssen sich an die Untertitel halten, um festzustellen, dass die vom jungen Kapellmeister Jakob Hrůša souverän organisierten Orchester-Kommentare punktgenau zu den Situationen passen. Musiziert wird jedenfalls mit höchster Intensität.

„Die Sache Makropulos“ („Věc Makropulos“) in der Premierenbesetzung am 15., 18. und 23. Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2015)

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