Musikverein: Unendliche Melodien von höchstem Ausdruck

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Symbolbild.(c) Clemens Fabry
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Igor Levit präsentierte ein Kompendium des Klavierspiels von Bach bis Prokofieff im großen Musikvereinssaal: Barock, Klassik, Romantik und Moderne als spannendes expressives Hör-Abenteuer.

Die Rasanz seines Aufstiegs war gerade an seinen Auftritten im Wiener Musikverein gut abzulesen: Wien-Debüt feierte Igor Levit im „Presse“-Musiksalon im Gläsernen Saal, als „Rising Star“ kam er in den Brahms-Saal, als Einspringer ersetzte er vor zwei Jahren über Nacht Maurizio Pollini im großen Saal, wo er am Sonntagabend erstmals offiziell gastierte. Die Hochspannung war vom ersten Moment an spürbar: Levit ist trotz seiner Jugend heute schon einer der bedeutendsten Interpreten unserer Zeit.

Wie um das schon am Programmablauf ablesbar werden zu lassen, avisierte der Pianist eine Tour d'horizon durch den Kosmos des Klavierspiels von Bachs Vierter Partita über Schuberts „Moments musicaux“ und Beethovens „Sturm“-Sonate zu Prokofieffs zweiter „Kriegssonate“ von 1942. Große Brocken von höchst unterschiedlichem Zuschnitt. Die ganze Palette von Anschlags-, Farb- und Phrasierungskultur lässt sich daran abarbeiten – freilich besteht schon nach den früheren Begegnungen mit Igor Levit kein Zweifel, dass er all das, Prokofieffs rasante Schluss-Toccata inklusive, spielen kann, dass er alle Arten, einen Steinway zu traktieren, souverän beherrscht.

Tatsächlich lässt er schon mit der „Ouvertüre“ der D-Dur-Partita keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm keine Sekunde lang darum geht, Virtuosität unter Beweis zu stellen. Bachs faszinierendes Werk begreift er von dessen zweitem Satz, der „Allemande“, aus, in der sich der Komponist wohl weiter als in irgend einer anderen seiner Suiten vom tänzerischen Grundmuster entfernt und zu neuen Ufern subjektiven musikalischen Ausdrucks aufbricht: Levit nimmt sich Zeit, um den ununterbrochenen, langen, schier endlosen Gesang sanft strömend zu entwickeln – die erste der legendären „unendlichen Melodien“, vor Mozart und lang vor Wagner noch und noch viel „unendlicher“ scheinend als deren legendäre Eingebungen.

Eine Virtuosität der Innerlichkeit

Bezeichnend, dass Levit zum Ausklang des Abends dann Prokofieffs Sonate Nr. 7 nicht als „Final“-Stück aufzäumt, sondern das „Andante caloroso“, den Mittelsatz, wie eine moderne Wiederauflage von Bachs mutigem Versuch zum Klingen bringt: Die Toccata spielt Levit mit einer Leichtigkeit und rhythmischen Brisanz, die ihn zum primus inter pares unter den heutigen Tastentigern macht; seine Darstellung des langsamen Satzes aber wird von diesem Abend wohl am längsten in Erinnerung bleiben: Klavierspiel von innigster Gesanglichkeit, wie ein Selbstgespräch und doch von immenser Innenspannung erfüllt, die selbst den hartnäckigsten Katarrh in der 24. Reihe irgendwann zum Verstummen bringt.

So hatten schon Schuberts „Momente“ geklungen, introvertierte, zärtliche Botschaften, in die nur das Allegro vivace (Nr. 5) rüde hereinbricht. Wie mit erstickter Stimme erzählen die Klänge auch Beethovens d-Moll-Sonate (op. 31/2): Von „Klassik“ kann bei solch beredtem, vielschichtigem Spiel keine Rede sein. Das ist Expressionismus pur, eine Musik, bei der auch Hörer, die sie gut zu kennen meinen, plötzlich nicht sicher sein können, wie sie (und ob sie überhaupt) im nächsten Moment „weitergeht“. Man hört Musik ganz neu, wenn ein solcher Pianist am Werk ist, der Interpretationen anzubieten hat, die diesen Namen verdienen, inspiriert, intuitiv an die tiefsten Emotionen rührend.

Übertragung auf Ö1: 5. Juni, 19.30.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2016)

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