„Tancredi“: Rossini virtuos, aber ernst

(c) AP (Stephan Trierenberg)
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René Jacobs und teils außergewöhnliche Stimmen brechen eine Lanze für Rossinis „Tancredi“. Die Inszenierung von Stephen Lawless bröckelt zuletzt.

Den tiefen Riss im Boden überbrückt nur der Verhandlungstisch – vorläufig. Denn zum Aktschluss werden nochmals Flammen aus ihm emporzüngeln, der Bürgerkrieg zwischen zwei konkurrierenden faschistischen Systemen bricht erneut und schlimmer aus. Syrakus im 11. Jahrhundert? Nein, zu Zeiten des Duce siedeln Regisseur Stephen Lawless und sein Ausstatter Gideon Davey Rossinis „Tancredi“ an, als Ehre und Vaterland in Italien mindestens so viel galten und so oft beschworen wurden wie im mittelalterlichen Sizilien. Also stiefelt die Soldateska immer wieder mal im Stechschritt durch die immer ärger ramponierte Palastruine, die als Einheitsbühnenbild fungiert.

Hierher kehrt der Held Tancredi aus der Verbannung zurück, um seiner Liebe zu Amenaide willen. Diese soll jedoch auf Geheiß ihres Vaters Argirio zur Besiegelung des Burgfriedens Orbazzano heiraten – und steht noch dazu plötzlich als Verräterin dar, weil ein für Tancredi bestimmter Brief aus ihrer Feder abgefangen und als Schreiben an einen die Stadt bedrohenden Maurenfürsten missverstanden wird. Tancredi rettet zwar ihr Leben und tötet Orbazzano, misstraut Amenaide aber immer noch...

Der rechte Stoff für eine Seria, komponiert vom 21-jährigen Rossini: Vor allem in den Chören schlägt er prononciert martialische Töne an (szenisch matt, aber musikalisch aufgeweckt die Herren des Schoenberg Chors), verlangt den Solisten abseits von Tancredis Hit „Di tanti palpiti“ reich verzierten Edelmut und in Duetten süß perlende Terz- und Sextparallelen ab, verbindet spätestens im zweiten Akt aber mit heutigen Ohren stellenweise neutral anmutende Brillanz auch mit emotionaler Beteiligung.

Die hervorragende polnische Sopranistin Aleksandra Kurzak (Amenaide), von der Männergesellschaft zum blasslila Püppchen mit Korkenzieherlocken stilisiert, nuanciert mit sauber leuchtendem Klang noch die akrobatischsten Wohllautkaskaden subtil und expressiv. Auch Colin Lee leistet als Mussolini-Double Argirio Außergewöhnliches: Koloraturgewandt und bis zum hohen D mühelos sicher, nimmt man seinem Tenor noch dazu die Vaterrolle ab.

Manko: Dramaturgischer Leerlauf

Die erkältungsbedingten Probleme der unverwechselbaren Vivica Genaux in der Titelpartie waren zwar unüberhörbar, fielen aber insgesamt kaum ins Gewicht. Hinzu traten Konstantin Wolff (Orbazzano) mit klangvoll-noblem, vielversprechendem Bass, Ruby Hughes (Roggiero) und Liora Grodnikaite als szenisch intelligent aufgewertete Isaura.

Am Pult des nicht völlig stolperfrei, aber farbreich und wendig agierenden Orchestre des Champs-Élysées stand Altmeister René Jacobs, der sich als Exsänger eine Vorliebe für Rossini bewahrt hat. Die szenische Legitimation für Jacobs' musikalisch löblichen, gegen Ende aber dramaturgisch hemmenden Vollständigkeitsdrang bleibt die nicht mehr als grundsolide Regie aber schuldig – das größte Manko des Abends. Als sich der immer noch an Amenaides Treue zweifelnde Tancredi erneut in die Schlacht wirft, wo sogar der sterbende maurische Feind ihre Unschuld beteuert, reicht Lawless selbst das nicht: Zu den Klängen des von Jacobs favorisierten „lieto fine“, also des glücklichen Ausgangs, verschmäht Tancredi die Ehe und schließt sich dem faschistischen Heer an. So wird die ganze letzte Handlungsvolte zum inhaltlich überflüssigen Anhängsel im dramaturgischen Leerlauf degradiert, weil keine Entwicklung mehr erfolgt. Da hätte Tancredis Tod noch mehr Sinn ergeben.

Viel Jubel für die musikalische Seite, einige Buhs fürs Regieteam.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2009)

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