Staunen zu Sant'Ambrogio

Das Ehe- als Liebespaar: Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in Mailand.
Das Ehe- als Liebespaar: Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in Mailand.REUTERS
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Langzeit-Scala-Chef Muti dirigiert Bruckner in Wien, an der Scala wird auch nach Anna Netrebkos großer Arie nicht applaudiert.

Am Tag des Heiligen Ambrosius eröffnet in allem Juwelenglanz die Mailänder Scala. Das ist Tradition. Aber nichts ist, wie es war. Mittlerweile hat die Welt via TV-Sender Arte teil am einst so exklusiven Spettacolo; und auch sonst hat die Premiere am 7. Dezember wenig mit einer Inaugurazione von einst zu tun.

Die Agonie der Opernkunst wird nach und nach auch in den legendären Weihestätten des Genres offenbar – „4.0“ ist ja, wie jüngst berichtet wurde, sogar an der Pariser Oper im Anmarsch, wo man die „Bohème“ im Weltraum spielen lässt . . .

Mailand ist diesbezüglich zwar noch nicht angekränkelt – aber die Publikumssitten sind vollkommen verwildert. Gewiss, von abstrusen Demonstrationen der Zu- oder Abneigung blieben hier auch früher schon Stars und solche, die es gern wären, nicht verschont. Doch längst wissen die berüchtigten Loggionisti – enge Verwandte des Wiener Stehplatzpublikums – nicht mehr, was sie tun: Seit man in Mailand den wunderbaren Piotr Beczała ausgebuht hat, sorgen die Impresarii vor und überlegen, wie sie den Applaus während der Vorstellung unterbinden. Und das Schlimmste: Es gelingt ihnen!

Was fehlt: Die Interaktion

Damit ist eine der wichtigsten Qualitäten einer spannenden Liveaufführung dahin. Gewiss, die meisten Komponisten der Verismo-Generation haben in ihren Partituren nahtlose Übergänge zwischen den einzelnen „Nummern“ vorgesehen – doch hätte sich etwa ein Puccini schön bedankt, wenn nach Cavaradossis Sternenarie in der „Tosca“ der Applaus ausgeblieben wäre.

Auch Umberto Giordano hätte gestaunt, was heutzutage zu Sant'Ambrogio in Mailand möglich ist, dass nämlich eine Diva wie Anna Netrebko in seinem „Andrea Chenier“ die große Szene „Mamma morta“ hinreißend singt – und der Maestro dann weiterdirigiert, ohne dass sich eine Hand regt. Allein, Loggionisti, die ihr Geld wert waren, wussten genau, in welchem Moment ein Applaus einsetzen hätte müssen, der dennoch "durchgegangen" wäre...

Die Vorgeschichte: Man hatte Netrebkos Mann, Yusif Eyvazov, Randale avisiert, sollte er tatsächlich zur Eröffnungspremiere der Saison an der Seite seiner Frau die Titelpartie singen. Nun, er sang. Und er sang gut. Gewiss verfügt er nicht über die pure Stimmschönheit der Netrebko – natürlich auch nicht über die seines Rollenvorgängers an der Scala, José Carreras.

Allein, Carreras hat in seinem Bühnenleben nicht solch sichere Höhen und so kraftvolle Phrasen in den dramatischen Passagen bewältigt wie Eyvazov. Das wäre mindestens so bejubelnswert wie etwa die ebenso imposanten, aber völlig eindimensionalen Kraftakte des baritonalen Gegenspielers Gerard, Luca Salsi.

Aus dem Potenzial möglicher souveräner Chenier-Darsteller ragt Eyvazov jedenfalls beinah so hoch heraus wie aus dem gediegenen Qualitätsmittel der aktuellen Scala-Besetzung des Stücks – das dank Mario Martone immerhin eine Realisierung im adäquaten Umfeld (Margherita Palli) erfährt: Das Werk spielt anno 1789 und das erkennt man in Mailand auch.

Hausherr Riccardo Chailly bringt Giordanos Musik – mit der er einst auch sein Wiener Staatsoperndebüt gefeiert hat – jedenfalls zum Leuchten; und es ist eine feine Pointe, dass sein Vorvorgänger, Muti, am Vormittag des 8. Dezember nun Zeit für Wien hatte, um mit den Philharmonikern Haydn (Symphonie Nr. 39) und Bruckner (die Neunte) zu musizieren.

Wie sich die Netrebko mit ein, zwei Sätzen in ihrer großen Szene weit über das Niveau rundum hebt und für Minuten suggeriert, hier fände großes Musiktheater statt, fokussiert auch Muti das Interesse des Publikums innerhalb weniger Takte voll und ganz aufs philharmonische Spiel. Schon bei der ersten Generalpause der Haydn-Symphonie spürt man jene Hochspannung im Saal, die dann auch bei Bruckner von Anfang an herrscht.

Philharmoniker: Exzellent

Stilistische Fragen stellen sich angesichts einer solch hochkonzentrierten, energetischen Orchesterleistung nicht. Da wird exzellent und technisch makellos Musik gemacht. Mag man sich bei Haydn hie und da forschere, dramatischere, leidenschaftlichere Tongebung wünschen, für Bruckner hat Muti den rechten Atem, er kostet Steigerungen süffig aus, lässt sogar kleine Haltepunkte zu, wo kein Ritardando in der Partitur steht; interessanterweise wirkt der Gestrenge bei Bruckner freier als etwa bei Verdi.

Das fiel schon anlässlich seines „Bruckner-Debüts“ in Salzburg während der Achtzigerjahre auf, mit der Sechsten, wenn ich mich recht erinnere, mit der der Maestro seine Universalität unter Beweis stellte. Heute ist er einer der wenigen allerersten Dirigenten, die sich im Philharmonischen die Ehre geben; dieses Wochenende noch zweimal im Musikverein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2017)

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