In den Schatten gelauscht

(c) David Furrer
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In „Zeit mit Furrer“ fesseln Dramen des Hörens und damit des Lebens: Beat Furrer steht als Komponist im Zentrum und ist auch als Dirigent zu erleben.

Hören ist Erinnern“, sagt Beat Furrer: Die unweigerliche Vergänglichkeit von Musik, die Tatsache, dass jeder vom Menschen hervorgebrachte Ton bereits Ahnung und Gewissheit seines Endes in sich trägt, macht das Lauschen auch zu einer Tätigkeit des Gedächtnisses. Dazu passt, dass sich Furrer zum Schreiben neuerdings in ein einsames Forsthaus im Gesäuse zurückzieht: Er braucht die Stille, um sich – Vorsicht, Paradoxon! – der künftigen Klänge entsinnen zu können. Und: „Jedes Verklingen eines Tones ist schon ein Drama für sich.“ Der Wunsch, den Klang festzuhalten – also das, was ein Komponist auf dem Papier tut –, spiegelt sich im Versuch des mythischen Sängers Orpheus, seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt zu befreien und mit sich ins Leben zurückzuholen.

So scheint es nur naheliegend, dass Furrer dieses Thema zum Zentrum eines seiner eindrucksvollsten Musiktheaterwerke gemacht hat: „Begehren“, uraufgeführt 2001. „Schatten“ lautet darin das erste Wort – und aus dem Schatten treten die Klänge hervor: Einzelne Linien steigen an, sie raunen, wispern, züngeln. Zwei Menschen, die bloß „ER“ und „SIE“ heißen, streben aus der Unterwelt dem Licht des Tages zu. Sein Blick zu ihr zurück ist der Wendepunkt in doppeltem Sinn: Der tragische Moment wird in mehreren Wiederholungen eingefroren, immer wieder aufs Neue durchlitten, ohne jede Chance auf Änderung des Geschehenen. Doch das ist nur der Anfang eines Beziehungsdramas, in dem die beiden Protagonisten verschiedene Stationen durchlaufen – Stationen des Erinnerns und des Suchens, auf der Spur des verlorenen Gegenübers und zugleich ihrer selbst. Schrecklich, dass ER damit geschlagen ist, nicht mehr singen zu können! „Hörst du?“, fragt SIE in der letzten von zehn Szenen: „jeder / Augenblick / ist eine neue / Felswand / von / Trennung“. Das „Begehren“, das der Titel nennt, es erscheint ohne Weg, ohne Ausweg.

Aufbruch mit dem Klangforum. „Begehren“ nach Texten von Cesare Pavese, Günter Eich, Ovid und Vergil steht konzertant am Beginn jener vier Abende, die das Festspielpublikum von 30. Juli bis 6. August einladen, erfüllte „Zeit mit Furrer“ zu verbringen. Dass dabei dreimal das Klangforum Wien im Kollektiv oder mit einzelnen Mitgliedern zu hören ist und der Komponist zweimal selbst am Pult steht, führt schon mitten hinein in dessen Biographie. 1954 in Schaffhausen in der Schweiz geboren, ging Beat Furrer mit Anfang zwanzig nach Wien, um an der damaligen Musikhochschule Dirigieren und Komposition zu studieren. Roman Haubenstock-Ramati hat ihn dabei besonders geprägt: durch seinen „enormen analytischen Verstand“ ebenso wie durch die Fähigkeit, seine Studierenden in erhellende Gespräche zu verwickeln, anstatt ihnen vermeintlich richtige Wege oder Lösungen aufzuzwingen. Der Pfad, den Furrer dadurch selbst eingeschlagen hat, entwickelte sich zu einem Königsweg für das österreichische Musikleben, das 1985 immer noch unterversorgt war mit fähigen Ensembles, die neue und neueste Werke adäquat aufführen konnten. Die Gründung und bis 1992 auch Leitung des schließlich so genannten Klangforums Wien gehört zu Furrers wichtigsten Leistungen als Organisator und Dirigent, zu denen längst auch ein verdienstvolles Wirken als Professor an der Musikhochschule/-universität Graz getreten ist. Als Komponist hat er spätestens seit seinem 1989 als Auftragswerk der Wiener Staatsoper uraufgeführten Musiktheater „Die Blinden“ immer wieder aufhorchen lassen – oder besser: die Ohren spitzen. Schon in diesem Stück war vieles von dem enthalten, was Furrer dauerhaft fesseln sollte: eine oft von ihm selbst (mit-)erstellte, beziehungsreiche Textcollage aus Antike bis Gegenwart; Erkundungen von Geräuschaspekten in Sprache, Gesang sowie Musik; die Liebe zur Stimme und deren ungewöhnlicher, aber virtuoser Einsatz; ganz allgemein die Metamorphose von Klängen. Wegen der Sensibilität seiner Musik lange Zeit als ein Meister der leisen Töne charakterisiert, schreitet Furrer in seinen Werken doch wesentlich größere Kreise aus. Mit Bedacht spielt dabei, wie etwa beim explizit als „Hörtheater“ bezeichneten Stück „Fama“, der Mythos eine zentrale Rolle, seine Fortschreibung und sein Verständnis aus der Sicht der Gegenwart. „Theater stilisiert, und Oper ist das am stärksten stilisierte Medium. Sie hat mit dem Mythos begonnen und ist dann allmählich davon befreit worden, hat jedoch die Stilisierung behalten. Der singende Mensch ist nicht der sprechende Mensch“, betont Furrer. Aber beim Singen könne man Dinge ausdrücken, die sich anders nicht sagen ließen. „Das ist ja vielleicht überhaupt die geheimere Aufgabe der Musik: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man singen. Wer sagt, die Oper sei zurückgeblieben, betrachtet vielleicht die Libretti, aber nicht die Kunstform und das einzelne Kunstwerk als Ganzes – aus Bewegung, Wort und Klang. Im Grunde geht es um die Utopie Gesamtkunstwerk heute.“ Das Spannende sei dabei, so Furrer, „wie sich Erzählformen verändern, entwickeln oder auflösen.“

Ohrenzeugin und Wüstenbuch. Auch das Konzert lässt sich als Erzählform begreifen, in der einander musikalische Charaktere in Werkform begegnen können – über stilistische und historische Grenzen hinweg, die neue Beziehungen herstellen. Bei „Zeit mit Furrer“ sind es das sechsstimmige Requiem von Tomás Luis de Victoria sowie die oft spirituell inspirierte Musik des im Oktober 2017 mit knapp 93 Jahren verstorbenen Schweizers Klaus Huber, die mit Furrers Klangwelt in Beziehung treten. Zwei seiner Werke umrahmen die vier Jahrhunderte alte Totenmesse, gesungen von den Tallis Scholars: einerseits die separat aufführbare 6. Szene aus dem Musiktheater „Invocation“ (2003) nach Marguerite Duras’ Roman „Moderato cantabile“, in dem die Protagonistin zur Ohrenzeugin eines Mordes wird – wieder steht das Hören im Zentrum! –, nur für Sopran und Bassflöte geschrieben; andererseits „intorno al bianco“, ein Werk, in dessen Verlauf sich die Klarinette allmählich aus dem umhüllenden Klang eines Streichquartetts befreit. Franck Ollu und das œnm konfrontieren Hubers Werke mit zwei älteren Stücken Furrers, „Gaspra“ und „. . . cold and calm and moving“, beide um 1990 entstanden. „Ich hatte sie nahezu vergessen“, gesteht der Komponist. „Aber sobald ich wieder mit der Musik in Kontakt kam, erinnerte ich mich wieder selbst an den Zustand beim Schreiben, an das, was mich damals bewegt hat.“ Am letzten Abend schlagen Isabel Karajan als Sprecherin, die Neuen Vocalsolisten Stuttgart und das Klangforum unter Furrers Leitung dann das „Wüstenbuch“ auf, jenes von Ingeborg Bachmann wie jenes von Furrer, das sich, zwischen altägyptischen Texten und neuen von Händl Klaus changierend, auf das Werk der Dichterin bezieht: der Versuch einer Selbstfindung im Niemandsland nach dem Ende des Begehrens.

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