200 Jahre Grimms-Märchen: Als Rapunzel schwanger war

Kinder vor Märchenbuch
Kinder vor Märchenbuch(c) AP (JENS MEYER)
  • Drucken

Die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm werden am 20. Dezember 200 Jahre alt. Doch die erste Ausgabe war ein Flop: die Märchen erschienen den Zeitgenossen wenig kindgerecht.

Ursprünglich war Rapunzel ja kein besonders sittsames Mädchen. Sie empfing ihren Geliebten heimlich in ihrem Turmzimmer, wurde von ihm schwanger, war allerdings immerhin naiv genug, nicht zu wissen, warum sich ihr Körper so veränderte: „Sag mir doch Frau Gothel, meine Kleidchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen“, wandte sich Rapunzel an die Fee. Die erkannte natürlich gleich, was vorgefallen sein musste, und war entsprechend empört.

Ursprünglich – das heißt in der ersten Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm – war die böse Königin, die eitel ihren Spiegel befragte, nicht die Stiefmutter Schneewittchens: Sie war die leibliche Mutter. Und auch Hänsel und Gretel wurden – horribile dictu – von jener Frau im Wald ausgesetzt, die sie geboren hatte.


Keine erbauliche Lektüre. Geschichten von unverheirateten Schwangeren und Müttern, die ihren Kindern nach dem Leben trachten und ihre Nieren in Salz gebraten zu verspeisen wünschen; Märchen, in denen ein armer Mann Gott als Taufpaten für sein Kind ablehnt, weil Gott nämlich den Reichen gebe und die Armen hungern lasse. Erzählungen gar, in denen ganze Familien ausgerottet wurden. Das scheint keine erbauliche Lektüre zu sein – erst recht nicht für Kinder. Wobei Jacob und Wilhelm Grimm die Märchen anfangs gar nicht für Kinder sammelten – der Berliner Verleger Georg Andreas Reimer hatte die „Kinder“ aus Verkaufsgründen in den Titel hineinreklamiert. Den Grimms ging es um eine literaturhistorische Publikation – nein, mehr noch: Aus ihren Märchen sollte die Seele des Volkes sprechen.

Naturpoesie versus Kunstpoesie. Beeinflusst von Carl Friedrich von Savigny und Johann Gottfried Herder sahen sie eine geschichtliche Bewegung vom Ursprünglichen, Natürlichen hin zum Gekünstelten, Verderbten. In den Sagen der Völker und in den Märchen sei dieser Ursprung konserviert – darum musste dieser Schatz geborgen werden, bevor die „Kunstpoesie“ den Weg dazu versperrte. Mit diesem Ziel brachten sie Märchen und Sagen heraus, beschäftigten sich mit der Mythologie, erforschten die deutsche Grammatik, die Herkunft der Wörter – und begründeten damit die Germanistik, sowohl was die Methode als auch den Forschungsgegenstand betrifft.

In Zeiten der napoleonischen Kriege, da Deutschland in viele Einzelstaaten geteilt war, suchte man das Verbindende in der deutschen Sprache und Kultur – und dabei vor allem in der Volkskultur: „In diesen Volksmärchen liegt lauter urdeutscher Mythos, den man für verloren gehalten hat“, meinten die Grimms im Vorwort des 1815 erschienenen zweiten Bandes. Die Märchen würden auf die uralte Heldendichtung ein neues Licht werfen.

Doch schon die Sammelpraxis der Brüder Grimm macht deutlich, was sie unter dem Begriff „Volk“ verstanden: Es war das erstarkende Bürgertum. Statt übers Land zu fahren und sich dort von den „einfachen“ Menschen erzählen zu lassen, was von Generation zu Generation überliefert wurde, ließen sie gebildete Frauen aus ihrem Bekanntenkreis zu sich ins Haus kommen und schrieben deren Geschichten nieder, wie der Düsseldorfer Germanist Heinz Rölleke in seinem Band „Es war einmal. Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie erzählte“ nachwies.


Teil der Auflage eingestampft. Auch mit dem „deutschen Mythos“ war es nicht weit her: Unter den Damen aus dem Kasseler Stadtbürgertum fanden sich unter anderem die Schwestern Hassenpflug, deren Vorfahren aus Frankreich stammten und die den Grimms reihenweise Märchen aus der berühmten Sammlung des französischen Schriftstellers Charles Perrault auftischten. Und auch die zu einigem Nachruhm gelangte Dorothea Viehmann – angeblich eine „gemeine Bäuerin“, in Wirklichkeit eine gebildete Dame – war hugenottischen Ursprungs. Wieweit es den Brüdern Grimm bewusst war, dass sie französische Märchen als „ächt hessisch“ verkauften, ist nicht gesichert. „Der gestiefelte Kater“ etwa und der „König Blaubart“ finden sich jedenfalls nur in der ersten Ausgabe, die zweite Ausgabe sollte da deutscher werden. „Dornröschen“ und „Aschenputtel“ blieben trotzdem. Manche französischen Märchen wurden auch von Ludwig Tieck übersetzt und fanden so Eingang in die Kinder und Hausmärchen. In diesem Fall musste der Ursprung den Grimms bekannt gewesen sein.

Der Verkauf der ersten Auflage von 900 Stück verlief jedenfalls schleppend, ein Teil musste eingestampft werden, und die Grimms waren knapp daran, sich mit ihrem Verleger zu überwerfen. Doch der konnte die Brüder überzeugen, Änderungen vorzunehmen: Die Mütter wurden etwa zu Stiefmüttern, Rapunzel bekam ihren Heiratsantrag, und die Schwangerschaft wurde gestrichen, so manches Märchen wurde samt und sonders entfernt, etwa das grausame Erziehungsstück „Wie Kinder Schlachtens gespielt haben“. Darin schlachtet der Vater ein Schwein, einer der Söhne will die Szene nachspielen und sticht den Bruder in den Hals, woraufhin die Mutter ihm das Messer entreißt. Um es kurz zu machen: Am Ende ist die gesamte Familie ausgerottet, inklusive des unbeteiligten Kleinkinds, das in der Badewanne saß.

Von diesem Märchen weiß man, dass Achim von Arnim, der gemeinsam mit Clemens Brentano die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ herausgegeben hatte, es stark kritisierte: Es sei zu grausam und verführe zur Nachahmung. Wilhelm Grimm verteidigte es: Das Märchen habe ihm seine Mutter erzählt, es habe ihn ganz im Gegenteil dazu bewogen, beim Spielen Vorsicht walten zu lassen.

Wilhelm Grimm ließ sich dennoch überreden, diese Geschichte herauszu nehmen. Insgesamt wurden die Märchen von Ausgabe zu Ausgabe kindgerechter. Wichtig war die rechte Moral, die rechte katholische Moral auch. Wenn der arme Mann Gott nun vorwirft: „Du gibst den Reichen und lässt den Armen hungern“, so folgt diesem Ausbruch der Satz: „So sprach der Mann, weil er nicht wusste, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilte.“

Die Eingriffe jedenfalls verschafften den Kinder- und Hausmärchen den Durchbruch. Und sie hörten bei den Brüdern Grimm nicht auf: In den vergangenen Jahrzehnten wurden nach und nach Grausamkeiten aus den Märchen getilgt: In vielen Publikationen muss die böse Stiefmutter nicht mehr in rotglühenden Pantoffeln tanzen. Aber auch die Tendenz mancher Märchen wurde verändert: Im Grimm'schen „Froschkönig“ etwa wurde unmoralisches Verhalten tatsächlich noch belohnt: Obwohl der Vater keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass die Prinzessin den Froschkönig freundlich zu behandeln habe, wirft sie den ungeliebten Gast bei der erstbesten Gelegenheit an die Wand. Klatsch macht es – und aus dem Frosch wird ein Prinz.


„Kinder brauchen Märchen“. Die Widerborstigkeit zaubert also den Traumprinzen herbei – später wurde das Märchen von Psychoanalytikern wie Bruno Bettelheim gern als Beispiel für sexuelle Verweigerung interpretiert: „Die Geschichte vom Frosch bestätigt, dass Widerwillen angebracht ist, wenn man noch nicht reif ist für die Sexualität, und bereitet darauf vor, dass sie etwas sehr Wünschenswertes ist, sobald die Zeit reif ist“, so Bettelheim in seinem Klassiker „Kinder brauchen Märchen“. In jüngeren Versionen wurde die durchaus mehrdeutige Geschichte geglättet – in ihnen wird der Frosch bevorzugt geküsst, der Wille des Vaters wird also erfüllt, wofür man das Motiv aus einem anderen Märchen einbaute. Aus der Coming-of-Age-Story einer jungen Frau wurde knallharter Erziehungsstoff: Folge deinem Vater, und alles wird gut.

Brüder Grimm

Jacob Grimm wurde 1785 in Hanau geboren, sein Bruder Wilhelm kam ein Jahr später zur Welt. Beide besuchten das Gymnasium in Kassel und zogen später nach Marburg.

Märchen und Sagen begannen die Brüder, angeregt von Achim von Arnim und Clemens Brentano, ab 1806 zu sammeln. 1812 erschien der erste Band der „Kinder- und Hausmärchen“, 1815 folgte der zweite. Weitere Publikationen galten dem „Altdeutschen Meistergesang“ und den „Deutschen Sagen“, der „Deutschen Grammatik“ und der Etymologie. Die Brüder Grimm gelten als Begründer der Germanistik.

In Göttingen hatten die Brüder Professuren inne, wurden aber entlassen und des Landes verwiesen, als sie gemeinsam mit anderen eine Streitschrift wider den Verfassungsbruch des Königs von Hannover publizierten. Anschließend lebten sie in Berlin, wo Wilhelm 1859, Jacob Grimm 1863 starb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Bücher der Gebrüder Grimm
Literatur

Der Grimm: 123 Jahre emsiges Sammeln

1838 begannen Jacob und Wilhelm Grimm mit dem Projekt "DWB", einem neuhochdeutschen Wörterbuch. Es wurde 1961 fertig. Der Nachfolger wird digital sein.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.