Kulturgeschichte

"Wie finster die Welt einmal war!"

Eine Welt voll grandioser Ungeheuer zeigt die 1539 entstandene Carta Marina. Olaus Magnus, später Erzbischof von Uppsala, ließ sie drucken, als er wegen seines katholischen Glaubens im italienischen Exil weilte. Er orientierte sich an Berichten von Seeleuten, Bestiarien, Seefahrtsfolklore.
Eine Welt voll grandioser Ungeheuer zeigt die 1539 entstandene Carta Marina. Olaus Magnus, später Erzbischof von Uppsala, ließ sie drucken, als er wegen seines katholischen Glaubens im italienischen Exil weilte. Er orientierte sich an Berichten von Seeleuten, Bestiarien, Seefahrtsfolklore.(c) dtv
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El Dorado und Atlantis, die Riesen von Patagonien und die Seeungeheuer der Carta Marina: In seinem "Atlas der erfundenen Orte" beweist der Brite Edward Brooke-Hitching, dass die wahren Abenteuer tatsächlich im Kopf sind.

Wir leben in einer Zeit, in der alles Wissen auf Knopfdruck verfügbar ist. Vielleich auch deshalb boomt alles, was mit Fantasy zu tun hat. Der Forschergeist des Menschen ist unerschöpflich. Aber was ihn inspiriert, ist die Vorstellungskraft: „Sie öffnet die Welt für uns. Sie ist grenzenlos und unerschöpflich. Was eine Linie auf einer Landkarte ist, kann in unserer Vorstellungskraft zu einem Universum werden“, sagt der britische Autor Edward Brooke-Hitching im Gespräch mit der „Presse“ in London über seinen „Atlas der erfundenen Orte“.

In dem soeben auch auf Deutsch erschienenen Buch beschreibt Brooke-Hitching Länder, Städte, Inseln, Meeresstraßen, Berge und Flüsse, die es nie gegeben hat – und die dennoch für wirklich gehalten wurden, weil sie auf Karten verzeichnet waren. „Ich wollte die Geschichte von Dingen erzählen, die es gar nicht gab“, sagt er. So schildert er bekannte Beispiele wie das legendenumwobene El Dorado oder das verschollene Atlantis, erzählt aber auch von vielgliedrigen Ungeheuern, furchterregenden Kreaturen und geheimnisvollen Wesen wie den Gorgaden.

Als eine Seereise ein Abenteuer war

Karten dienten stets nüchternen Zwecken: Forschung, Kriegführen, Handel. Wie sie auch zum Spiegel unserer Innenwelt werden konnten, erklärt Brooke-Hitching so: „Wir dürfen nicht vergessen, wie finster die Welt einmal war! Wer sich auf eine Seereise aufmachte, begab sich in ein Abenteuer mit vollkommen ungewissem Ausgang.“ Lücken des Nichtwissens wurden mit Erfundenem ausgefüllt. Dafür gab es mehrere Gründe. „Expeditionen waren ungemein teuer. Die meisten Seefahrer mussten dafür Financiers finden“, sagt Brooke-Hitching. Dafür versprach man dem Sponsor oft ungeahnte Reichtümer, wie etwa bei der Suche nach dem Seeweg nach Indien oder nach der (irrtümlichen) Entdeckung Südamerikas. Der Schrecken und die Vernichtung, die durch die Jagd nach Gold und anderen Rohstoffen verursacht wurden, sind vielfach dokumentiert.

Nicht immer wurde Wertvolles gefunden. So brachte der englische Seefahrer Sir Martin Frobisher, dem die Suche nach der Nordwestpassage zur Obsession wurde, von einer seiner Expeditionen eine angebliche Goldprobe zurück in die Heimat. Damit gewann er die Unterstützung für eine weitere Forschungsreise, bei der er Hunderte Tonnen an Material verschiffte, das sich bei der Prüfung in England als wertlos herausstellte.

Damit nicht genug. Frobisher berichtete auch von der Entdeckung einer Insel in strategischer Lage zwischen Atlantik und Pazifik: „Sie erschien außerordentlich fruchtbar und bewaldet und ist ein herrliches Land“, zitiert der „Atlas“ einen Bericht von 1578. In den folgenden Jahrhunderten findet sich diese Insel Buss regelmäßig auf Karten und in Reiseberichten. Bloß hat sie nie existiert.

Splitternackte in Formosa

Ebenso wenig existiert haben die Riesen von Patagonien, die Seeungeheuer der Carta Marina oder die Insel Formosa – nicht zu verwechseln mit dem heutigen Taiwan. Die Geschichte von Formosa zeigt, dass es nicht nur Unwissenheit oder Irrtum war, die zu falschen Angaben auf vermeintlich korrekten Karten führten. Manchmal war es schlicht Aufschneiderei: Der Franzose George Psalmanazar wurde in London eine Berühmtheit, als er 1702 von seiner angeblichen Heimat zu erzählen begann und sich als ihr erster Ureinwohner auf europäischem Boden ausgab. Er sprach vor wissenschaftlichen Gesellschaften ebenso wie vor dem Volk; seine Aufzeichnungen wurden Bestseller. Darin berichtete er vom Leben in der Hauptstadt Xternetsa, wo die Bewohner splitternackt herumliefen, nur die Genitalien mit Gold- oder Silberschnallen bedeckt. Es war eine friedliche Gesellschaft. Allerdings behielten sich Ehemänner das Recht vor, im Fall von Untreue ihre Ehefrauen zu verspeisen.

Anders als viele, die im Windschatten der Entdecker zu segeln versuchten, war Psalmanazar kein Betrüger, sondern schlicht ein Hochstapler. Erst die nach seinem Tod veröffentlichte Autobiografie enthüllte das ganze Ausmaß seines Schwindels. Brooke-Hitching ist voller Sympathie für ihn und ähnliche Charaktere, die das Buch bevölkern: „Wie langweilig wäre unser Leben, würde jeder immer nur die Wahrheit sagen“, meint er im Interview – ehrlich.

Irrtümer, Legenden und Lügen sind aber keinesfalls Dinge der Vergangenheit. Das 1994 in Kraft getretene Seerechtsübereinkommen von Montego Bay konnte bis heute unter manchen Mexikanern den Glauben an die Existenz der Insel Bermeja nicht widerlegen, die angeblich von den USA zerstört wurde, um sich Ölförderrechte zu erschwindeln.

2005 veröffentlichte Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“ über den fröhlichen Forscher Alexander von Humboldt und den übellaunigen Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Der „Atlas der erfundenen Orte“ liest sich wie ein perfekter Kompagnon dazu. Kürzlich erschien nun Kehlmanns Roman „Tyll“, der den Schalk Till Eulenspiegel im Dreißigjährigen Krieg zeigt. Ob Eulenspiegel oder Baron Münchhausen – diesen fantasievollen Hochstaplern würde in Brooke-Hitchings Werk ein Ehrenplatz gebühren.

Edward Brooke-Hitching: „Atlas der erfundenen Orte. Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten“, aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff, dtv, 256 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2017)

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