Der neue Handke: Parzivals Schwester

In den Augen der titelgebenden „Obstdiebin“, so Peter Handke, haben sich all die Abenteuer, Begegnungen und epiphanischen Momente „jedenfalls so zugetragen“. Dem Leser mag ihre Wanderung durch die Île-de-France tagtraumhaft erscheinen, obwohl gerade jene Orte, die Magie ausstrahlen, idyllenfrei sind.

Parzivals Schwester?‘ ,Die Obstdiebin?‘ ,Einfache Fahrt ins Landesinnere?‘ (,Letztes Epos‘).“ So lautet ein Eintrag in Handkes Journalband „Vor der Baumschattenwand nachts“ (2016). Nun, nur ein Jahr später, zu seinem 75. Geburtstag, liegt diese Geschichte im Geiste Wolfram von Eschenbachs bereits vor. Dass es nicht Handkes „letztes“ großes Werk sein wird, ist zu hoffen; und da Handke solche Hinweise gern einstreut, könnte man das hier wiederholt angetippte Phänomen „Zählzwang“ als mögliches neues Thema interpretieren.

„Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt ins Landesinnere“ erzählt von einer dreitägigen sommerlichen Fußreise in die Picardie im Nordwesten von Paris und verbindet damit eine Art Werk- und Lebensbilanz. Tatsächlich sind fast alle von Handkes Werken mit dem Titel, einem wörtlichen Zitat oder einem indirekten Verweis präsent, ebenso wie seine Lebensthemen: die geduldige Arbeit an der beschreibenden Wahrnehmung von Dingen und Menschen, die Bürde familiären Erbes, die Tragik verfehlter Eltern-Kind-Beziehungen oder die schwierige Balance zwischen Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Distanz. Dass die heutige Gesellschaft der jungen Generation systematisch die Teilhabe und damit die „Zugehörigkeit“ verwehrt und sie in prekäre Nischen abdrängt, lässt Handke so deutliche Worte wählen wie selten. Wie der im Wald aufgewachsene Parzival am ritterlichen Verhaltenskodex zunächst scheitert, ergeht es der Obstdiebin. Sie hat das Studium abgebrochen, ist viel gereist, zuletzt durch Sibirien, hat vieles gelernt und verfügt über so manche Begabung. „Nur fand sie damit in die Gesellschaft, die aktuellen Strukturen keinen Eingang.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.