Die wilde Cora und ihre Ungeheuer

Sarah Perry gilt seit „Die Schlange von Essex“ als eine der vielversprechendsten jungen Autorinnen Englands.
Sarah Perry gilt seit „Die Schlange von Essex“ als eine der vielversprechendsten jungen Autorinnen Englands.(c) Jamie Drew
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Sarah Perry schreibt wie eine flotte Mischung aus Jane Austen und Charles Dickens. „Die Schlange von Essex“ ist witzig, klug und bevölkert mit komplexen Figuren.

Nichts an diesem Buch ist gewöhnlich. Nicht die Sprache, nicht die Bilder und vor allem nicht die Charaktere – voller Widersprüche, Brüche und Sehnsüchte, alle auf ihre Weise zerrissen und wieder zusammengefügt. Sarah Perrys Roman „Die Schlange von Essex“ wurde zu Recht hoch gelobt und bald nach seinem Erscheinen mit Preisen überhäuft, darunter auch mit dem britischen Buchpreis für den besten Roman des Jahres. Denn der jungen Frau (1979 geboren) gelang das Kunststück, mit einer Stimme zu erzählen, die gleichzeitig der Vergangenheit und der Gegenwart angehört. „Die Schlange von Essex“ liest sich wie eine Mischung aus Jane Austen und Charles Dickens, modernisiert durch flotte Dialoge und aufgelockert durch einen Humor, der „feinsinnig“ ebenso gut kann wie „witzig“.

„Die Schlange von Essex“ spielt 1893, innerhalb eines Jahres, an dessen Ende das Leben aller handelnden Personen (auch der nebensächlichen) nicht mehr dasselbe sein wird. Der schillernde Mittelpunkt der Handlung ist Cora Seaborne, eine junge Witwe, die der Tod ihres Mannes aus einer Ehehölle befreit. Als 17-jähriger Wildfang erregte sie die Aufmerksamkeit von Michael Seaborne, der sie verführte, an sich band und fortan als Experiment betrachtete: „Ich breche dich und heile deine Wunden mit Gold.“

Die Liebe zu toten Dingen. Seabornes Vermächtnis an Cora sind – neben einem kleinen Vermögen und ungezählten Narben – der Hass auf ihre eigene Schönheit, die Liebe zu toten Dingen und ihr Sohn Francis, ein nach heutigen Maßstäben autistisches Kind. Rund um Cora kreisen mehrere Trabanten, vor allem ihre Freundin und Vertraute, die Kinderfrau Martha, und Luke Garrett, der ebenso geniale wie zynische kleinwüchsige Chirurg.

Nach dem Tod ihres Mannes reist Cora nach Essex, um dort ihrem Hobby nachzugehen: der Suche nach Fossilien. Zusätzlichen Reiz erhält die Gegend für sie durch die Gerüchte um ein mysteriöses Untier in der Flussmündung des Blackwater. Diese Schlange von Essex wurde zuletzt im 17. Jahrhundert gesichtet, soll aber wieder aktiv sein und befeuert die Fantasie einer zunehmend hysterischen Bevölkerung.

Die Angst vor der Schlange konzentriert sich auf den kleinen Ort Aldwinter. Durch die Vermittlung von Freunden lernt Cora William Ransome kennen, den Pfarrer von Aldwinter. Zwischen Cora und dem glücklich verheirateten Ransome entwickelt sich eine magische Verbindung. Dabei geht es nicht so sehr um das Körperliche als um eine Seelenverwandtschaft zwischen zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten, die in den großen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts sehr oft als Gegner auftreten.

Und Sarah Perry gibt ihren Protagonisten viele Gelegenheiten, ihre geistigen Waffen aneinander zu schärfen. Sie greift alle gesellschaftspolitisch spannenden Themen der viktorianischen Zeit auf: wie eine Frau zu leben, wie sie auszusehen und was sie zu denken hat; die Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Entwicklungen etwa auf dem Gebiet der Medizin; die soziale Frage, die unter anderem an der schlechten Wohnsituation der Arbeiterklasse in London illustriert wird; der Vormarsch der Naturwissenschaften, angeführt von Charles Darwin, auf Kollisionskurs mit der Kirche; der Konflikt zwischen einer modernen, rationalen Lebenswelt und der, die ihre Erklärungen aus dem Aberglauben bezieht.


Gegensätze ziehen sich an. Perrys großes Geschick ist es, diese Themen mühelos mit der Romanhandlung zu verweben. Ihre zweite Stärke ist die wunderbare Figurenzeichnung, und wie sie diese Personen miteinander verknüpft. „Die Schlange von Essex“ ist voller Freundschaften, Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die wilde, freisinnige Cora und die abgeklärte Martha, der bitterböse, arme Luke und sein gutmütiger, reicher Freund George Spencer, William Ransomes Frau Stella und Coras Sohn Francis. Nicht zuletzt deshalb bleibt „Die Schlange von Essex“ bis zuletzt immer für eine Überraschung gut.

Neu Erschienen

Sarah Perry
„Die Schlange von Essex“


Übersetzt von Eva Bonné,
Eichborn Verlag,
492 Seiten,
24,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2017)

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