Leitfiguren im Labor der Wiener Moderne

Ludwig und Paul Wittgenstein beim Notenstudium, fotografiert von Carl Pietzner, 1909.
Ludwig und Paul Wittgenstein beim Notenstudium, fotografiert von Carl Pietzner, 1909.(c) Österreichische Nationalbibliothek
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Die Ausstellung „Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl“ präsentiert anhand dreier Zentralgestalten das dichte Netzwerk, das Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen Malerei, Dichtung, Musik, Architektur und Philosophie bestand.

Wer in diesem Jahr die Wiener Moderne feiern will, kann sich in den großen Wiener Museen an den Bildern von Gustav Klimt, Egon Schiele und Kolo Moser ergötzen, um Gebäude von Otto Wagner flanieren, vielleicht gar einem Konzert mit Kompositionen der Wiener Schule der Moderne lauschen. Oder man kann das Literaturmuseum besuchen und in die philologische Tiefe gehen. Das Haus in der Johannesgasse, das zur Österreichischen Nationalbibliothek gehört, hat drei Repräsentanten jener Zeit in einer Ausstellung vereint, die auf den ersten Blick divergent scheinen, doch auch demselben Netzwerk angehören: „Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl“ lautet der lakonische Titel. Vollmundig ist die Erklärung im Satz darunter: „Zentralfiguren der Wiener Moderne.“

Typoskriptblatt aus dem „Tractatus“

Wie zentral jemand oder etwas ist, resultiert aus der jeweiligen Perspektive. Was also haben das „Musikgenie“ Alban Berg (1885– 1935), der „Jahrhundertphilosoph“ Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und die „Salondame“ Berta Zuckerkandl (1864–1945) gemein? Von ihnen allen gibt es reichlich Stoff in der Nationalbibliothek, der zum Teil sogar in die UNESCO-Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde. Es ist jedenfalls ein besonderes auratisches Erlebnis, unter den mehr als 250 Originalobjekten auch Einmaliges aus Wittgensteins Nachlass ausgestellt zu sehen, etwa ein Typoskriptblatt vom „Tractatus logico-philosophicus“ mit handgeschriebenen Kommentaren des Philosophen und seines englischen Übersetzers aus dem Jahre 1922 zu diesem raren Frühwerk, das er später verwarf. Hilfreich ist der Stammbaum der Familie, aus dem man auch deren besondere Beziehung zu Großbritannien herauslesen kann. Das Bild von der ältern Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein ist zwar nicht das Originalgemälde von Klimt, doch die Kopie gibt dieser textlastigen Ausstellung Flair, so wie die vielen Fotos (etwa ein inniges von Ludwig mit seinem Bruder Paul beim Notenlesen), Tondokumente und Zeichnungen.

Tumult mit Schönberg im Musikverein

Wild geht es bei Berg zu. Selbstverständlich wurde auch der „Skandal“ im Musikverein ausgiebig gewürdigt, das Große Orchesterkonzert vom 31. März 1913, das von Arnold Schönberg dirigiert und abgebrochen wurde, weil gerade auch bei der Aufführung von Orchesterliedern Bergs ein Tumult ausbrach, zwischen Traditionalisten und Erneuerern. Minutenlang Gelächter, Zischen und Gebrüll im Publikum, ein Herr stürmt vom Podium runter und haut einem Zuhörer, der ihn Lausbub nannte, eine herunter, wie der Dichter Arthur Schnitzler, der ebenfalls anwesend war, in sein Tagebuch schrieb. Und Berg? Der bedankte sich zwei Tage später voller Emphase in einem Brief bei seinem Lehrer Schönberg. Sein Text endet so: „Und nochmals Dank!!! Immer wieder Dank!!!!“ Für Berg war diese tolldreiste Aufführung die Eintrittskarte in die Musikgeschichte. Die Zweite Wiener Schule erkämpfte sich ihren Platz. Notenblätter aus dem „Wozzeck“ und der „Lulu“ sind ausgestellt, Skizzen zum Violinkonzert. Und Literatur. Berg verstand sich auch als Musik-Schriftsteller. Er verehrte Karl Kraus, den Herausgeber der „Fackel“, ein Leitmedium der Literatur. Wien bezeichnete Kraus als „Versuchsstation des Weltuntergangs“.

Mit Zuckerkandl verband den strengen Kritiker höchstens innige Abneigung. Die letzte große Salonnière, die das „öde Salongeschwätz verscheuchen“ wollte und sich nach „geistigen Vibrationen“ sehnte, war als Publizistin nicht nur pathetisch, sondern besonders streitlustig. Sie setzte sich vehement für neue Kunst ein, besonders für Klimt, mit dem sie befreundet war. Zu ihrem Kreis zählten u. a. Freud, Strauß, Bahr, Zweig, Hofmannsthal, das jüdisch-intellektuelle Milieu.

Flucht nach Nordafrika mit 76 Jahren

Die Vernetzung der Wiener Szenen wird in dem ihr gewidmeten Teil der Ausstellung besonders anschaulich. Intensive Beziehungen hatte ihre großbürgerliche Familie auch zu höchsten Kreisen in Frankreich. 1938 floh Berta Szeps-Zuckerkandl vor den Nazis nach Paris, dann mit 76 Jahren nach Algerien. Zuvor hatte sie ihre Erinnerungen in einer deutschen Exilausgabe verfasst: „Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte“. Ihrem Enkel Emile ist der Erhalt großer Teile ihres Nachlasses zu verdanken – Autografenalben mit Beiträgen ihrer Gäste, ausführliche Tagebücher, Fotos und Postkarten berühmter Leute. Auf diesem Gebiet bleibt sie tatsächlich eine Zentralfigur der Wiener Moderne.

Bis 17.2.2019 im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Johannesgasse 6, 1010 Wien; Dienstag bis Sonntag 10 bis 18, Donnerstag bis 21 Uhr. Von Juni bis September auch montags von 10 bis 18 Uhr. www.onb.ac.at/museen/literaturmuseum. Der Katalog zur Ausstellung wurde von Direktor Bernhard Fetz herausgegeben, im Zsolnay Verlag, 335 Seiten, € 27,80.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2018)

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