Johanna Rachinger: "Sammeln und Verwalten genügt nicht"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Generaldirektorin der Nationalbibliothek über das 650. Jubiläum ihrer Institution – und eine Anregung zum Haus der Geschichte.

An diesem Sonntag feiert die Österreichische Nationalbibliothek ihr 650. Jubiläum mit einem „Open House“. Das klingt nach einer Novität. Was erwartet die Besucher?

Johanna Rachinger: In meinen 17 Jahren als Generaldirektorin gibt es solch ein „Open House“ das erste Mal. Ich kann mich auch nicht an Derartiges zuvor erinnern. Es ist für uns alle im Haus ein Privileg, solch ein Jubiläum mit vielen Gästen begehen zu dürfen. Wir nehmen es zum Anlass, unsere Bestände noch besser in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Besondere am Sonntag sind „Backstage“-Führungen, zum Beispiel in den Bücherspeicher, der sich über vier Etagen unter der Burggarten-Terrasse erstreckt. Dort wird der Großteil unserer Bücher gelagert, jährlich kommen 35.000 Bände dazu. Das wollen wir erfahrbar machen und zeigen, wie und woran wir arbeiten.


Eine Schatzkammer des Wissens als offenes Haus, das klingt nach Balanceakt. Diese Bibliothek soll also Wertvolles bewahren und zugleich auch allen zugänglich sein?

Solch ein Kontrast ist tatsächlich eine Herausforderung. Zum einen sind wir die größte Archivbibliothek des Landes mit mehr als 12 Millionen Büchern und anderen Objekten. Wir haben den gesetzlichen Auftrag, alles zu sammeln, was hierzulande erscheint, auch für spätere Generationen. Aber das Sammeln und Verwalten allein genügt nicht. Dann fände die Bevölkerung bald keinen Zugang mehr zu diesem identitätsstiftenden Symbol. Also müssen wir zum anderen auch unsere Schätze präsentieren und den Menschen immer wieder zeigen, welche Bedeutung diese Bibliothek hat.


Das Jubiläum orientiert sich am Gründungskodex der Bibliothek: 1368 wurde das Evangeliar des Johannes von Troppau fertiggestellt, als eine Art Krönungsevangeliar für die Habsburger. Was sind für Sie denn noch andere wichtige Daten in der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek?

Es begann mit einer Privatsammlung Herzog Albrechts III. Sie entwickelte sich zu einer äußerst repräsentativen kaiserlichen Hofbibliothek. Die Erste Republik brachte 1918 eine gravierende Veränderung, die Hofbibliothek der Habsburger wurde zur Nationalbibliothek. Man scheute sich damals jedoch, sie als österreichisch zu bezeichnen, weil der damalige Generaldirektor so wie viele andere meinte, es gebe eine solche Nation nicht. Dann kam die NS-Zeit, in der das Haus keine rühmliche Rolle gespielt hat. Es wurden viele Objekte für die Bibliothek geraubt. Inzwischen haben wir sie restituiert. Da gab es berührende Szenen, etwa wenn ein Buch zurückgegeben wurde, in das eine Großmutter Persönliches hineingeschrieben hatte, ehe sie in Auschwitz ermordet wurde.

Wann kam das Haus zum heutigen Namen?

Erst im Jahr 1945 hat man sich zur Österreichischen Nationalbibliothek bekannt. Wir begreifen uns zudem als mitteleuropäische Bibliothek und pflegen enge Beziehungen zu den umliegenden Ländern.


Sie führen die ÖNB seit Juni 2001. Was war bisher das Wesentliche Ihrer Agenda?

Anfangs musste ich vor allem die Ausgliederung aus der Bundesverwaltung umsetzen, die Nationalbibliothek in die Autonomie führen. Das war zugleich eine große Chance. Wir konnten unternehmerisch und mit großer Flexibilität agieren. Das erst hat ermöglicht, die Digitalisierung des Bestandes rasch voranzutreiben und das Haus weit zu öffnen. Die Herausforderung war, die Bibliothek ins 21. Jahrhundert zu führen. Bei uns wird sehr viel geforscht, die Ergebnisse werden auch breiter zugänglich gemacht als früher, wir beschäftigen uns intensiv mit Informationstechnologie und haben dafür auch beträchtliche Drittmittel aufgestellt. Die Bestände werden mit der gleichen Sorgfalt archiviert wie zuvor, aber die Digitalisierung und die Fülle an Ausstellungen schaffen mehr Öffentlichkeit. In den letzten zwei Jahren haben wir die Besucherzahlen jährlich um einiges über 20 Prozent gesteigert, das hat die Einnahmen stark erhöht. Neues und Altes ergänzen sich.

Gibt es noch Kritik an der Digitalisierung des Bibliotheksbestandes?

Nein. Die Partnerschaft mit Google, die 2011 begann, war höchst erfolgreich. Das Projekt wird im Herbst abgeschlossen. 40 Mio. Euro hätten wir ohne diesen großartigen Partner nie bereitstellen können. Es war ein riesiger Schritt hin zur Demokratisierung des Wissens. Hunderttausende Werke stehen den Lesern nun weltweit digital gratis zur Verfügung, bei EU-Projekten sind wir eben wegen der großen Menge an digitalen Inhalten als Partner interessant. Und es schafft Sicherheit. Man stelle sich vor, der Hofburgbrand 1992 hätte den Prunksaal erfasst. Wir hatten damals die Werke dort nicht digital. Die Inhalte wären unwiederbringlich verloren gewesen.


Gesetzt den Fall, Sie wären eine Politikerin, wie würden Sie hier ums Eck ein Haus der Geschichte planen?

Die Idealvorstellung für das Haus der Geschichte Österreich wäre in jedem Fall ein Neubau. Wenn also Bundesminister Gernot Blümel in seiner Ära ein Leuchtturmprojekt haben möchte, könnte ich ihm empfehlen, ein eigenes Haus dafür zu bauen. Wir haben in diesem Land schon lange kein neues Museum errichtet. Es würde viele Besucher anziehen. Jetzt gibt es aber erst einmal die Entscheidung für das Mezzanin in der Neuen Burg.

Steckbrief

Johanna Rachinger ist promovierte Theaterwissenschafterin und Germanistin, die Oberösterreicherin leitet seit 2001 als Generaldirektorin die größte Archivbibliothek des Landes.

Open House: Die Österreichische Nationalbibliothek begeht das 650. Jubiläum an diesem Sonntag ab 10 Uhr mit einem Tag der offenen Tür, nicht nur am Heldenplatz und im Prunksaal am Josefsplatz, sondern auch in ihren vielen Zweigstellen – dem Literatur-, Esperanto-, Globen- und Papyrusmuseum. Diverse Backstage-Führungen werden angeboten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2018)

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