Mütter und Kinder: „Denk' ab und zu mal an mich“

Carole Fives hat mit Charlène eine Mutter zum Fürchten, Leidtun und Bewundern geschaffen.
Carole Fives hat mit Charlène eine Mutter zum Fürchten, Leidtun und Bewundern geschaffen.(c) Catherine Hélie/Éditions Gallimard
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Keine Beziehung ist so vielschichtig wie die zwischen Müttern und Kindern. Carole Fives spürt diesen Ebenen in „Eine Frau am Telefon“ geschickt nach.

Charlène ist 62, zuerst geschieden, später verwitwet, raucht wie ein Schlot, nimmt sich kein Blatt vor den Mund – schon gar kein politisch korrektes –, stemmt sich entschlossen gegen das Alter, verhätschelt ihren Hund und treibt sich auf Singlebörsen herum. Vor allem aber telefoniert Charlène mit ihrer Tochter, mehrmals täglich, klammert sich an die imaginäre Telefonschnur als Rettungsleine, um nicht vollends abzudriften ins weite Meer der Einsamkeit und Nutzlosigkeit.

Klingt deprimierend? Keineswegs. Oder zumindest nicht nur. Die französische Autorin Carole Fives hat aus diesen Zutaten einen Roman gemacht, der auf nur 128 Seiten alle Facetten einer Mutter-Kind-Beziehung widerspiegelt: irritierend, berührend, ärgerlich, ungerecht, witzig, warmherzig, launisch, kraftspendend und vieles mehr. Die Schauspielerin Iris Berben, die die deutsche Hörbuchversion eingelesen hat, war von dem Buch so begeistert, dass sie gemeinsam mit ihrem Sohn, dem Regisseur Oliver Berben, die Filmrechte kaufte.

Charlène ist „Jedermutter“, nur viel unverblümter und kategorischer. Sie sagt Sätze, die jede Tochter und jeder Sohn wohl in irgendeiner Form schon einmal gehört haben: „Gut, wenn du mir in dem Ton kommst, werde ich euch nicht mehr belästigen. Ich habe verstanden. Ich werde ganz allein hier herumsitzen, ohne von dir zu hören. Na schön, amüsier' dich, und denk' ab und zu mal an mich.“ Was die Tochter auf diese Anklagen erwidert, können wir nur mutmaßen, denn der Leser hört nur die Stimme von Charlène.


Von der Onkologie in die Psychiatrie. Diese Stimme wechselt mit der jeweiligen Stimmung der Protagonistin: von weinerlich zu ätzend, von witzig zu aggressiv, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt – und zwar in einem Affentempo. Diese Schwankungen kommen nicht von ungefähr. Charlène leidet tatsächlich an einer manisch-depressiven Störung. Diese bricht wieder auf, als sie die Diagnose eines aggressiven Blutkrebses erhält. Plötzlich muss sie nicht nur mit dieser schweren Krankheit, der Chemotherapie und allen Folgen fertig werden, sondern findet sich unvermittelt auch noch in der Psychiatrie wieder.

Doch im Kampf mit ihren Krankheiten erweist sich Charlène als ebenso kriegerisch wie den Kindern gegenüber. Sie legt sich mit Metastasen ebenso an wie mit Krankenschwestern, verbündet sich mit ihrer neuen Glatze ebenso wie mit anderen Patienten, unter denen sich ja vielleicht doch ganz zufällig ein neuer Mann fürs Leben finden könnte.

Für Tochter und Sohn ist die kranke Mutter eine noch größere Herausforderung als die gesunde, da sich Charlènes zum Teil fast schon kindische Uneinsichtigkeit jetzt noch mit Schwäche paart. Doch wie immer die Kinder reagieren, in den Augen der Mutter können sie nichts richtig machen: Sie ignorieren sie, sie kontrollieren sie, sie nehmen sie nicht ernst, sie legen jeden ihrer Sätze auf die Goldwaage. Auch wenn sie nicht zu Wort kommt, hört man die Tochter zwischen den monologisierenden Tiraden ihrer Mutter verzweifelt seufzen.

Umso erstaunlicher, dass man während der Lektüre von „Eine Frau am Telefon“ trotz anstrengender Mutter und genervter Tochter dennoch nie das Gefühl bekommt, es mit einer gescheiterten Beziehung zu tun zu haben. Denn genauso wie sie sie ständig kritisiert, stärkt Charlène ihren Kindern dann auch wieder den Rücken und ist für sie da (natürlich nicht ohne sie umgehend daran zu erinnern, wie großartig sie als Mutter denn nicht ist).


Verstehen und verzeihen. Das wahre Kunststück der 1971 geborenen Autorin aber ist es, wie unglaublich sicher sie sich in eine Frau einfühlt, die auch ihre Mutter sein könnte (und vielleicht auch ist?). Ähnlich wie bei einer Paartherapie gibt Carole Fives vor allem der Töchtergeneration die Gelegenheit, die Welt durch die Augen der Mütter zu sehen. Und dieser Blick zahlt sich aus, es gibt vieles zu erfahren, einiges zu verstehen und so manches zu verzeihen. Ein bereicherndes Buch – nicht nur zum Muttertag.

Neu Erschienen

Carol Fives:
„Eine Frau am Telefon“

Übersetzt von Anne Braun
Deuticke
128 Seiten
16,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2018)

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