Die Krabbe im Kopf

Die 31-jährige Autorin Karosh Taha wurde im Nordirak geboren und wuchs in Deutschland auf.
Die 31-jährige Autorin Karosh Taha wurde im Nordirak geboren und wuchs in Deutschland auf.(c) Havin al-Sindy
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Ein Leben zwischen der Enge einer kurdischen Familie und deutscher Freiheit: Die irakisch-kurdische Autorin Karosh Taha hat einen ungemein sensiblen Debütroman geschrieben.

Die Geschichte der kleinen Krabbe, die im Fluss Chabur wohnt, da bei den sandigen Häusern im irakischen Kurdistan, wird folgendermaßen erzählt: Das Krabbenvolk beschließt, auszuwandern, aber die Krustentiere vergaßen in einer Höhle die kleinste unter ihnen. Die Krabbe wachte aus ihrem Schlaf auf und war plötzlich allein, bewohnte ganz einsam den großen, verlassenen Strand. Und so kniff das kleine Getier, aus Wut und Bestürzung, jeden in die Wade, der ihr zu nahe kam.

Als die kleine Sanaa am Chabur von einer Krabbe gezwickt wird, tröstet Nasser, ihr Vater, das Mädchen mit der Geschichte des bemitleidenswerten Wesens. Er ahnt dabei nicht, dass sich die kleine Krabbe in Sanaas Kopf einnisten, ihre Gedanken stetig begleiten wird, auch dann, wenn die Familie schon längst in einem tristen Hochhaus in Deutschland wohnt, und nicht mehr im staubigen, steinigen Irak, wo man die Hitzenächte nur draußen auf dem Dach aushalten kann.

Sanaa ist 22 Jahre alt, wohnt zu Hause und lebt in zwei Realitäten. Eine ist deutsch, sie erlebt sie auf der Universität, beim Ausgehen, in der Welt außerhalb des grauen Viertels. Und die andere ist kurdisch, eng, irgendwie entrückt. Sanaas Vater hatte sich ein goldenes Leben erwartet, als er nach Europa kam, stattdessen schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und aus seiner Familie wurde ein zerrissenes Konstrukt. Seine Frau, Asija, leidet an schweren Depressionen. Und die beiden Töchter quält das Leben auf dem Zwischenplaneten, irgendwo zwischen dem kurdischen und deutschen Kosmos. Sanaas Eltern halten, wie so viele Migranten, verzweifelt an der Vergangenheit fest, weil sie ihr Leben halb fertig in der Heimat zurückgelassen haben. Wenn die Vergangenheit immer so vage bleibt, wie soll dann die Zukunft stabil werden?

Blutige Arme. Die kurdisch-deutsche Autorin Karosh Taha hat einen ungemein sensiblen Debütroman geschrieben. Ihre Sanaa träumt davon, Teil einer unaufgeregten Welt zu sein, allerdings ist ihre Mutter krank und ihr Vater hat wohl eine Affäre. Zudem kratzt er sich seine Arme blutig, die dann rot verkrusten, wie der Panzer einer Krabbe (die Krabbenmetapher für das Unglück kommt immer wieder).

Sanaas Hochhausviertel ist von Zuwanderern bewohnt. Jeder beäugt jeden, hunderte Augenpaare immer und überall. Die junge Studentin will keine von den Frauen im Hochhaus werden, „deren Lebenswelt bis zum Supermarkt reicht“. Sie will weg von ihrer feindseligen Tante, die im oberen Stock wohnt, und dessen dicker Freundin Baqqe mit ihren Zaubersprüchen. Sie will weg von dem haarigen Kurden, der sie auf Schritt und Tritt in seinem Volvo verfolgt, und will sich nehmen, was sie in dieser grauen Enge nicht darf: Sex, Abenteuer, Liebe. Tahas Roman als eine Coming-of-Age-Geschichte zweier Migrantentöchter mit schwieriger Familiengeschichte zu klassifizieren, täte dem Roman nicht recht. Denn er ist mehr als das, er erzählt davon, wie schmerzhaft es ist, einen Ort zu verlassen, an dem man schon dicke Wurzeln geschlagen hat. Eindringlich und berührend beschreibt die Autorin die zwei Welten der Eltern und Kinder, die irgendwo zusammenkommen sollten, es aber nicht können. Der einzige Ort, an dem sich alle wiederfinden, ist die Traumwelt. Und zwischen Realität und Fantasie bewegt sich dann auch die Erzählung der jungen Autorin.

Neu Erschienen

Karosh Taha
Beschreibung einer Krabbenwanderung
Dumont Verlag
236 Seiten
22 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2018)

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