"Fliegende Hunde": Die Suche nach Glück in Krylatowo

Wlada Kolosowa wurde in St. Petersburg geboren, lebt allerdings seit ihrem 13. Lebensjahr in Deutschland.
Wlada Kolosowa wurde in St. Petersburg geboren, lebt allerdings seit ihrem 13. Lebensjahr in Deutschland.(c) Nadine Staedtner
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Wlada Kolosowas Roman "Fliegende Hunde" führt die Leser in eine Plattenbausiedlung im Schatten von St. Petersburg. Hier ringen zwei Freundinnen um ihre Zukunft.

Krylatowo gibt es nicht – und doch existiert dieser Ort tausendfach in Russland. Wlada Kolosowa hat Krylatowo, einer fiktiven Plattenbausiedlung im Schatten der Kulturmetropole St. Petersburg, ein Denkmal gesetzt. Krylatowo ist ein Synonym für das Russland der kleinen Leute, die viel zu kleinen Wohnungen, in denen drei Generationen nicht besonders glücklich miteinander hausen, die vernachlässigten Hinterhöfe mit verrosteten Spielplätzen, das in diesen Siedlungen allgegenwärtigen Grau. Krylatowo, das ist auch Heimat für viele, trotz allem.

Ebenso wie das Grau von Krylatowo in der Sonne manchmal golden glänzt, ist Kolosowas Debütroman ein Wechselspiel aus Träumen, Hoffnung und Enttäuschung. „Fliegende Hunde“ kreist auch ums Erwachsenwerden, um die erste Liebe und darum, wie schwer es ist, seinen Platz im Leben zu finden – vor allem, wenn man ein weiblicher Teenager aus Krylatowo ist.

In einer der Plattenbauten leben Lena und Oksana, 16 Jahre alt, Freundinnen und Nachbarinnen. Gemeinsam schauen sie aus dem Fenster und stellen sich vor, wie die Streunerhunde aus den Hinterhöfen losfliegen: schwarze Dackel mit Miniflügeln, Doggen mit Rabenflügeln und Dalmatiner mit Schmetterlingsflügeln. Wenn es doch nur so einfach wäre, sich aus Krylatowo davonzumachen!

Karriere in China? Doch darum geht es hier: Wie dem Elend schnellstmöglich entkommen? Die Wege der Freundinnen sind unterschiedlich, und die Autorin erzählt abwechselnd vom Schicksal der beiden Mädchen, deren enge Bande brüchiger werden. Lena lässt zum Entsetzen Oksanas die Schule sein und schließt einen Vertrag mit einer Modelagentur in Shanghai. Europäische Gesichter sind in China angesagt, das dürre Mädchen wittert seine Chance.

Kolosowa, die als Journalistin über das Thema recherchiert hat, schildert aus einer überzeugenden Innenperspektive die Erlebnisse des blonden Mädchens, das immer tiefer in den Strudel aus finanziellen und persönlichen Abhängigkeiten gerät – und schließlich nach Krylatowo zurückkehrt. Für immer? Oder doch nicht?

Die überlegtere Oksana hingegen vertieft sich in Hausarbeiten. Aus Unzufriedenheit über ihre rundliche Figur beginnt sie Recherchen zur Leningrader Blockade der Nazi-Truppen und gerät an eine Internetgruppe, die die gesundheitsgefährdende „Leningrad-Diät“ aus Senfkörnerbrätlingen und ausgekochtem Leder propagiert.

„Fliegende Hunde“ ist in einer schnörkellosen Sprache verfasst. Dennoch entwickelt Kolosowas Geschichte einen regelrechten Sog: Man will wissen, ob Lena und Oksana die Flucht aus der Wohnblockenge gelingt – oder ob sie, wie so viele in ihrer Umgebung, straucheln und aufgeben werden. Im Zentrum des Buches steht das weibliche Heranwachsen in einer Umgebung fast ohne positive Vorbilder. Die Selbstbehauptung als Subjekt gleicht einem ständigen Kampf, sollte man mehr vorhaben, als sich von einem Mann schwängern zu lassen oder unzuverlässige Partner auszuhalten.

Nähe und Vertrautheit erleben die beiden Freundinnen nur miteinander, wenn sie gemeinsam in ihrem Kinderbett liegen und gegenseitig ihre Körper erkunden. Diese geheimgehaltene und (noch) unverstandene Intimität steht im großen Widerspruch zur homophoben Außenwelt. Als Lena und Oksana beim Einkaufen in St. Petersburg zwei Frauen sehen, die sich öffentlich küssen, schlägt die übernommene gesellschaftliche Ablehnung durch – zumindest bei Lena, die sich abfällig über das Paar äußert. „Oksana fühlte sich wie nach dem einzigen Mal, als ihre Mutter sie geohrfeigt hatte: zuerst leer im Kopf, dann heiß im Gesicht und wacklig auf den Beinen. ,Ja, das ist abartig‘, beeilte sie sich zu sagen.“

Ein berührender Erzählstrang, den Kolosowa in ihre Geschichte eingebettet hat. „Eine Liebe wie eine Zimmerpflanze – für ein Leben außerhalb der vier Wände nicht geeignet“, sinniert Lena angstbesetzt an einer Stelle über ihre Beziehung zu Oksana. Kann sie dem Krylatowo in ihrem Inneren entfliehen? Eine Reise nach Shanghai scheint wie ein Kinderspiel dagegen.

Neu Erschienen

Wlada Kolosowa
"Fliegende Hunde"

Verlag Ullstein Fünf
224 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2018)

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