Wie es der Pilger schaffte, zum Schimpfwort zu werden

Buchcover "Rotwelsch" von Roland Girtler.
Buchcover "Rotwelsch" von Roland Girtler.Böhlau Verlag
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Von Gauklern, Prostituierten und Hausierern: Roland Girtlers lesenswerte Geschichte der Gaunersprache Rotwelsch wurde neu aufgelegt.

Immer wieder taucht der Name auf. Dann nämlich, wenn man sich auf die Suche nach den Wurzeln eines Wortes macht und im etymologischen Wörterbuch einen Hinweis findet, dass es aus dem Rotwelsch kommt – „die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden“, wie sie Soziologe Roland Girtler im Untertitel seines Standardwerks aus dem Jahr 1998 bezeichnet, das nun in einer Neuauflage erscheint.

Es ist eine wüste Mischung aus verschiedenen Sprachen und Dialekten, die vom Mittelalter an verwendet wurde – von denjenigen, die als Diebe, Betrüger, Gaukler, Hausierer oder Prostituierte unterwegs waren. Sie verständigten sich mit Wörtern, die aus dem Mittelhochdeutschen, Tschechischen, Französischen, Italienischen, verschiedenen deutschen Dialekten, aber auch aus der Sprache der „Zigeuner“ und nicht zuletzt dem Jiddischen zusammengesammelt und adaptiert wurden. Als ein Geheimcode, den die Bürger und der Adel nicht verstanden. Und in dem auch ein poetischer Witz wohnte – dass etwa „Achter“ als Begriff für Handschellen gleich ihre Form beschrieb.

Rotwelsch ist auch mit der Sprache der Studenten verbunden, die im Mittelalter noch nicht an eine Uni gebunden waren, sondern auf dem Weg nach Wissen herumzogen und sich unter anderem mit Gesang ihren Unterhalt verdienten. Daher rühren auch viele Studentenlieder, „Gaudeamus igitur“ inklusive. Und mit den Studenten vagabundierten auch Pilger quer durch Europa – nicht immer waren das glaubensfeste Menschen, oft nutzten zwielichtige Gestalten die Pilgerkluft, um unbehelligt herumziehen zu können. Von ihnen leitet sich auch ein Schimpfwort ab, das noch heute gebräuchlich ist: der „Pülcher“, der in Wien für den kleinen Gauner steht.

Auch viele andere Begriffe haben es aus dem Rotwelschen bis in den heutigen Sprachgebrauch geschafft. Das „Beisl“, zum Beispiel, das vom jiddischen „Baize“ (kleines Gasthaus) ins Rotwelsche kam. Oder auch der „Sandler“, der seinen Ursprung wohl bei der Ziegelherstellung in Wien hatte: So wurde jener Arbeiter bezeichnet, der den Sand für die Ziegel reichte und am wenigsten zu tun hatte. Und auch die „Marie“ als Bezeichnung für Geld kommt aus dem Rotwelschen – abgeleitet von „Maro“, das in der Sprache der „Zigeuner“ Brot bedeutete.

Girtler ist kein Freund des Lexikalischen. Er ist bekannt für Recherchen, die ihn direkt an seine Objekte des Interesses führen. Für sein Buch verbrachte er viel Zeit mit Gaunern, Prostituierten, Straßenmusikanten und vielen anderen Menschen am Rand der Gesellschaft. So kann er viele Anekdoten darüber erzählen, wie er bei nächtelangen Gesprächen in zwielichtigen Lokalen Begriffe gelernt hat. Dazu kommt ein historischer Abriss über Bettler, Gaukler und Ganoven, wie sie gelebt, mit welchen Tricks sie sich durchgeschlagen haben und wie sie letztlich immer weniger wurden. Unterhaltsam, informativ und öfter mit einem Aha-Erlebnis, wenn man auf die Herkunft eines Wortes stößt, das man bisher nie hinterfragt hat.

Der Teil mit Hunderten von Wörtern aus dem Rotwelsch und ihren Erklärungen ist ebenso lesenswert – wenn auch bei vielen Begriffen die etymologische Herleitung fehlt. Aber ein Lexikon des Rotwelschen wollte Girtler bewusst nicht schreiben. Und: Man merkt dem Buch an, dass die erste Fassung bereits 1998 erschienen ist. Preise werden noch in Schilling angegeben, und so manche Schilderung aus Wien wirkt aus der Zeit gefallen. Und trotzdem gibt es viel zu entdecken – dass das Buch neu aufgelegt wurde, wird also schon seinen Grund haben.

Roland Girtler:
„Rotwelsch. Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden“
Böhlau Verlag
278 Seiten, 20 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2019)

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