FiveThirtyEight: Was der Fuchs alles weiß!

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Der Statistik-Popstar Nate Silver ergründet seit Montag für den US-Sportsender ESPN Politik, Sport, Wissenschaft, Wirtschaft und eigentlich alles. Das ist ziemlich erschöpfend: im doppelten Wortsinn.

Spätestens am Abend des 6.November 2012 kannte jeder Amerikaner, der sich für die Politik in seinem Land interessiert, den Namen von Nate Silver. Der heute 36-jährige Statistiker hatte in seinem Weblog FiveThirtyEight, der von der „New York Times“ veröffentlicht wurde, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl in sämtlichen 50 Bundesstaaten korrekt vorhergesagt – und zwar großteils schon Wochen zuvor, als die Edelfedern auf den Kommentarseiten der großen Blätter noch von einem völlig offenen Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Barack Obama und Mitt Romney geschrieben hatten.

Schmeck's: Silver hatte mit seiner gewissenhaften Analyse aller verfügbaren Meinungsumfragen das etablierte Kommentariat samt seinem instinkthaften Bauchgefühl für Trends abserviert. Silver, der seine Begeisterung für Baseballstatistiken auf die politische Analyse umlegte, wurde zum Popstar der Statistik. Als die „New York Times“ sein Begehr nach einer prominenteren Rolle in der Redaktion abwies, übersiedelte er FiveThirtyEight (das wegen der 538 Wahlmänner und -frauen so heißt, die den US-Präsidenten küren) zum Sportsender ESPN. Mit zwei Dutzend Mitarbeitern und einem flotten neuen Design hat FiveThirtyEight am Montag seine virtuellen Pforten eröffnet.

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und – völlig ironiefrei – Leben wollen die Datenjournalisten auf den Grund gehen. Der Fuchs als Wappentier ist eine Erinnerung an den theoriegeschichtlichen Essay „Der Fuchs und der Igel“ von Isaiah Berlin. „Der Fuchs weiß viele Sachen, der Igel aber eine große“, heißt es dort, und das ist Silvers Credo: Altmodische Journalisten seien Igel, sie klammern sich an einer Sichtweise, einer Ideologie fest. Der moderne Datenjournalist hingegen sei wendig, undogmatisch, am Resultat allein interessiert. Man kann also sagen: Silver und sein Team denken induktiv, indem sie große Datenberge sammeln und aus ihnen Erkenntnisse pressen, statt eine große Theorie deduktiv auf jedes noch so unterschiedliche Ereignis zu stülpen.

Shakespeare in der Excel-Tabelle

Und so schicken sich Silvers Datenfüchse an, alles zu erklären: von der Suche nach dem verschollenen malaysischen Flugzeug über die Sezession der Krim von der Ukraine bis zur Frage, ob die Briten wirklich so schlechte Zähne haben, wie es das Klischee behauptet (nein, haben sie nicht). All das ist mit lobenswert vielen Zahlen gespickt, aber es trägt den Keim der Belanglosigkeit in sich. Will man zum Beispiel wirklich wissen, wie oft Romeo und Julia in Shakespeares Stück miteinander reden (er spricht 101 Zeilen zu ihr, sie 155 zu ihm)? Und wenn schon: Was lernen wir daraus Neues über Shakespeares Poesie? Ein Wald ist mehr als lauter Bäume, das Leben mehr als eine Excel-Tabelle nach der anderen. Echte Füchse wissen das. (go)

ZUR PERSON

Nate Silver (*13.Jänner 1978) hat seine Begeisterung für Baseballstatistiken auf die Wahlprognostik umgelegt. 2012 sagte er die Ergebnisse der US-Präsidentenwahl in allen Bundesstaaten richtig vorher. Seit Montag betreibt er für den Sportsender ESPN die datenjournalistische Plattform fivethirtyeight.com.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2014)

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