Ein Kämpfer mit einem unbändigen Lebenswillen

Er so konservativ, du ein Grüner – warum deswegen Streit? Christoph Chorherr mit seinem Vater, Thomas Chorherr.
Er so konservativ, du ein Grüner – warum deswegen Streit? Christoph Chorherr mit seinem Vater, Thomas Chorherr. (c) Mirjam Reither
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Persönliche Erinnerungen. Christoph Chorherr über seinen am Sonntag verstorbenen Vater, Ex-„Presse“-Chefredakteur Thomas Chorherr.

Ich möchte über meinen verstorbenen Vater erzählen. Begonnen sei mit der immer wiederkehrenden Frage, die ihn und mich unser Leben bis heute begleitet hat. An mich hat sie sinngemäß immer so gelautet: „Er so konservativ, du als Grüner – wie kommt ihr aus miteinander?“

Er wollte sein Leben lang ein guter Vater sein. Deswegen hat er immer meine Entscheidungen respektiert. Meine Berufswahl war wohl nicht die, welche er für mich erträumt hat. Aber selbst in den letzten Tagen, als ihm atmen und sprechen sehr schwerfiel, begann er jedes Gespräch wie seit Jahrzehnten: „Wie geht's den Grünen?“

Wir haben viele Konflikte in einer Weise umschifft, die viele vielleicht als feig betrachten. Wir sind ihnen aus dem Weg gegangen. Schon meine Politisierung, die Volksabstimmung über das AKW Zwentendorf 1978 gab den familiären Ton vor. Er stimmte aus Überzeugung mit Ja, ich teilte Flugblätter für das Nein aus.

Gestritten haben wir nicht. Er äußerte seinen Standpunkt, ich den meinen. Streit suchte und fand ich woanders. Dazu kam eine Eigenschaft meines Vaters: sein Humor, gerade auch den eigenen Standpunkten, der eigenen Lebensweise gegenüber.

Liebe zum geschriebenen Wort

Was ich ihm verdanke ist sehr viel. Da ist vor allem das: die Liebe zum Buch, zum geschriebenen Wort. Seine riesige Bibliothek war mir von frühesten Jahren an abenteuerliche Fundgrube. Keineswegs nur Literatur. Als ich ihm als 13-Jähriger gestand, Mario Puzos „Der Pate“ verschlungen zu haben, war er fast peinlich berührt.

Und dann das Schreiben: Von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“, hat mein Vater zwar nie gesprochen, aber auch jetzt ordne ich meine Gefühle und Erinnerungen an ihn, indem ich sie aufschreibe.

Dann: Politik war omnipräsent. Nein, nicht Politik, also Ideen, Konzepte, Strategien, sondern: Menschen. Sie waren zahlreich bei uns zu Hause. Zum Beispiel einer, den mein Vater tief verehrt hat: Bruno Kreisky.

Kreisky war im Ferienhaus meiner Eltern eingeladen. Mein Vater schickte mich mit dem Fahrrad aus, um ihm, ich erinnere mich genau, in seinem Rover DC den Weg zu zeigen. Bei den Gesprächen durfte ich immer dabeisein.

Ich verstand vieles nicht, aber für mich waren diese prominenten Politiker fast immer sehr freundliche, warmherzige Menschen. Als Karl Schleinzer, ÖVP-Obmann in den 1970er-Jahren, bei meinem Vater zu Gast war, sah er meinen Pingpongtisch und fragte, ob ich Lust auf ein Spiel hätte. Schleinzer hat mich dann gewinnen lassen.

Ich bin mir sicher, dass dieser unmittelbare, selbstverständliche Umgang mit sehr vielen Politikerinnen und Politiker, die die meisten nur aus den Medien kannten, für mich als Heranwachsender sehr prägend war. Gelegentlich, nicht allzu oft, erzählte mein Vater bei Mittagessen am Sonntag auch delikate innerparteiliche Details, welche er erfahren hatte. „Warum schreibst du das nicht?“, wollte ich wissen. „So etwas schreibt man nicht!“, erläuterte er mir die Praxis einer feinen, undefinierbaren, aber wichtigen Grenzziehung, die in Österreich das Verhältnis zwischen Politik und Journalismus mitbestimmt.

„Sie wissen gar nicht, wie viel Lob ich vertragen kann.“ Oft hat mein Vater lauthals lachend diesen Satz Kreiskys zitiert. Er hat dann auch eines seiner Bücher so benannt: „Lob des Lobens“. Lob und Anerkennung waren ihm wichtig. Es ist Jahrzehnte her, als das Mittagsjournal eine „Presseschau“ hatte und in einem Streifzug aus den Leitartikeln der Samstagblätter zitiert wurde. Die Stimmung am Wochenende war gerettet, wenn sein Leitartikel zitiert wurde. Als hochmütiger Jugendlicher habe ich dereinst diese Eigenschaft meines Vaters gar ein wenig verächtlich betrachtet.

Bedürfnis nach Anerkennung

Heute kenne ich sie bei mir ebenso wie bei den allermeisten Menschen: das Bedürfnis nach Wahrnehmung, nach Lob, nach Anerkennung. Wir sollten sie viel öfter geben, und, wie er, dazu stehen. Es ist eine bessere, humaner, freundlichere Gesellschaft, in der öfter gelobt und nicht nur (notwendige) Kritik geäußert wird. Er ist immer dazu gestanden und hat etwa seine vielfachen Ordensverleihungen geliebt. Sie waren ihm wichtig.

Ein einschneidender Schicksalsschlag traf ihn vor 25 Jahren aus heiterem Himmel: eine starke Gehirnblutung. Er war halbseitig gelähmt. Und: „Er wird möglicherweise nie wieder sprechen können“, beschied uns der Arzt nach der Operation. Dann kam die Zeit, in der er mir zum großen Vorbild wurde. Mein Vater war ein Kämpfer mit unbändigem Lebenswillen.

Die Sprache war sein Leben, sein Beruf, seine Leidenschaft. Gelähmt war seine rechte Seite, also auch die Hand, mit der er schrieb.

Verneigung vor der Mutter

An dieser Stelle möchte ich mich vor meiner Mutter verneigen. Nicht nur in den letzten Jahren, sondern seit seiner Gehirnblutung stand sie ihm in größter Liebe zur Seite. Im nächsten Jahr, 2019, hätten sie ihre diamantene Hochzeit gefeiert, ihr 60-jähriges Ehejubiläum. Wer die Wirrungen und Freuden, Enttäuschungen und Verletzungen von Liebesbeziehungen und Familie erfahren hat, kann nur den allergrößten Respekt vor einer so langwährenden Ehe hegen.

Nach seiner schweren Gehirnblutung kämpfte mein Vater ein Jahr hart darum, seine Sprache neu zu erlernen. Es ist ihm mit größtem Einsatz auch gelungen. Und er wollte wieder selbstständig mobil sein. Er hat sein Ziel erreicht, die Sprache wieder erlernt, allein Straßenbahnfahren erlernt.

Seit der Gehirnblutung hat er 13 Bücher verfasst. Unter Mühen. Und vor allem: In seiner geliebten „Presse“, der größten Leidenschaft seines Lebens, hat er weiter Artikel und Kommentare verfasst. Sein erster Artikel in der „Presse“ erschien 1957, sein letzter erst vor wenigen Wochen. 61 Jahre lang hat er in der „Presse“ geschrieben.

Seine Kommentare missfielen sehr vielen, darunter auch häufig mir. Warum deswegen Streit? Das ist sicher keine probate Strategie für andere. Vielleicht ist es auch feig und sogar ein wenig verlogen. Aber wir haben ein langes Leben – ich bin heute 57 Jahre alt, mein Vater wurde 85 – gut damit gelebt.

Mein Vater war praktizierender Katholik. Jeden Sonntag gingen wir in die Kirche. Als ich dann viel später ohne Groll aus der Kirche austrat, hat ihn das geschmerzt. Kritisiert hat er mich deswegen nie.

Sterben – ein Tabuthema

Über das Sterben wollte er nicht sprechen. Selbst in den letzten Tagen, als ihm klar war, wie es um ihn stand, er aber bei voller geistiger Klarheit um Atem rang, auch da verbat er sich das Thema Tod. Meiner Schwester, einer Ärztin, verdanken wir, dass er eine umfangreiche Patientenverfügung verfasst hat. Sie verhinderte ein sinnlos hinausgezögertes Leiden.

Unsere letzte Begegnung am vergangenen Freitag. Reden fiel ihm schon sehr schwer: „Ich hab dich lieb, gib mir ein Bussi!“ Ich küsste ihn zweimal auf die Stirn, sein Gesicht war von der Sauerstoffmaske bedeckt. „Das waren zwei“ meinte er daraufhin, und ich glaube, er versuchte zu lächeln.

DER AUTOR

Christoph Chorherr (*1960 in Wien) studierte Volkswirtschaftslehre an der WU. Er war 1991 bis 1996 Stadtrat der Grünen in Wien, 1996/97 Bundessprecher der Grünen. Von 1997 bis 2004 Klubobmann der Wiener Grünen, dzt. grüner Gemeinderat und Landtagsabgeordneter. Der abgedruckte Text ist eine gekürzte Fassung eines Blogeintrags zum Tod seines Vaters.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2018)

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