Wiener Festwochen: Kritik der neuen Medien auf Russisch

(c) Wiener Festwochen/Victor Dmitriev
  • Drucken

Mit „Abschied vom Papier“ ist dem Autor und Regisseur Jewgeni Grischkowez ein Hit gelungen. Sein Soloabend bringt Entschleunigung und Erkenntnis.

Ein bärtiger Mann mittleren Alters betritt die Bühne, spricht das Publikum an, plaudert über Handys, störende SMS in der Vorstellung. Keinen einzigen Anruf habe es in Moskau gegeben, als er „Abschied vom Papier“ spielte. In Wien irritieren bei der Premiere am Donnerstag zwei. Am Bühnenrand sitzt Stefan Schmidtke, der Schauspielchef der Festwochen. Er übersetzt den Monolog des Jewgeni Grischkowez aus dem Russischen, der den eigenen Dramen „eine neue Sentimentalität“ bescheinigt. Sein neuestes davon über die unsinnliche Kommunikationsgesellschaft ist ein Hit.

Von Anfang an fesselt Grischkowez. Noch ist er bei der Begrüßung, aber die Vorstellung hat längst begonnen, trotz der Beteuerung, sie werde gleich beginnen. Wir sind beim Thema: Das gute alte Papier wird von den neuen Medien verdrängt. Der Darsteller schafft es, die Menschen darüber zum Nachdenken zu bringen – mit entschleunigter und dennoch packender Show.

Das Bühnenbild ist absurd reduziert: Mitten auf der Bühne steht sein Schreibtisch, darunter liegen ein Haufen Bücher, ein kleiner Globus, lange Plastiktuben für Zeichnungen, auf dem Tisch ein großer Konstruktionsplan, ein Pappkarton mit persönlichen Erinnerungen: Briefe, Dokumente, Fotos – Museales aus dem Gutenberg-Zeitalter und den Zeiten davor. Hinten eine Wand mit fünf braunen Türen, die manchmal den Blick freigeben auf Dokumentenberge, Birken, Bücherwände. Einmal fährt mit lautem Tuten schnaufend eine Dampflokvorbei, man sieht es am Rauch.

Reißbrett, Feder, Tintenfass

Doch das lenkt nur ab von einem listigen Entertainer, der scheinbar naive Geschichten aus dem Alltag erzählt. Sie sind voller Erkenntnis. Grischkowez erinnert an alte Worte wie Reißbrett, Brieffreundschaft oder Tintenfass, die fast nicht mehr gebraucht werden, aussterben. Ein Stück Birkenrinde wird präsentiert. Vor tausend Jahren schon haben Russen auf diesem Material Briefe geschrieben, etwa folgenden: Eine Frau fragt einen Mann, warum er sie nicht mehr besuche. „Gott und ich werden dich strafen!“, schreibt sie am Schluss. Der Birkenbrief wurde zerrissen. Eine fatale Affäre des frühen Mittelalters? Grischkowez spielt mit seinem Laptop, philosophiert über all das Vergangene. Wohin ist das Löschpapier verschwunden? Wie wichtig waren Telegramme? Wie unerheblich sind dagegen Meldungen in sozialen Medien! Wie beschwerlich ist es, mit Feder und Tinte zu schreiben?

Die Nostalgie siegt. Google Maps? Ein Klacks gegen eine Erfahrung, die er der heranwachsenden Tochter zugemutet hat: Den schweren Atlas oben aus der Bücherwand holen, mühsam nachschauen, wie der Ozean zwischen Madagaskar und Afrika heißt. Die Meerenge von Mozambique werde sie deshalb nie vergessen, die Googelei hingegen sofort beim Weiterklicken. Der Abend bleibt zauberhaft bis zum Schluss, als ein Lied erklingt, das die Tochter sang. Die sentimentale Reise findet dankbare Begleiter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.